I. Reinhard Heß: Mehr als ein Job (Buchbesprechung)


Benjamin

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Das Ergebnis unserer Abstimmung steht fest - das erste Buch, das hier im Forum besprochen werden soll, ist die Biografie des ehemaligen deutschen Bundestrainers Reinhard Heß "Mehr als ein Job". Mit seinem Namen untrennbar verbunden ist die Erfolgsgeschichte der deutschen Skispringer im Zeitraum von 1993/94 bis 2002/03 - und so beschäftigt sich das Buch auch größtenteils mit den Ereignissen dieser Zeit.

Exemplarisch möchte ich das erste Kapitel herausgreifen, in dem von den Olympischen Spielen in Lillehammer berichtet wird. Heß beschreibt hier, wie wichtig es auch für seine weitere Arbeit als Trainer war, gleich in seinem ersten Jahr als Bundestrainer, solche Erfolge als Bundestrainer feiern zu können. Vier Jahre nach der Wiedervereinigung war es noch keine Selbstverständlichkeit, die deutschen Skispringer aus Ost und West als ein Team zu betrachten - doch die Einzelmedaillen für Jens Weißflog und Dieter Thoma und vor allem natürlich die Goldmedaille im Teamspringen formten aus den Athleten eine verschworene Gruppe.
Doch wie im gesamten Buch beschäftigt sich Heß auch hier nicht nur mit den Erfolgen, sondern auch mit dessen Schattenseiten. Mit Gerd Siegmund war ein fünfter Athlet in Lillehammer, der beim Mannschaftswettkampf zusehen musste, wie seine Kameraden Gold holten - und der noch lange daran trug, nicht dabei gewesen zu sein. Dass Heß eben auch diese Geschichten nicht zu erwähnen vergisst, macht das Buch so menschlich.

Bevor die Ereignisse seiner Zeit als Bundestrainer weiter chronologisch beschreiben werden, wirft Heß einen Blick in die Vergangenheit. Er erzählt von seiner Jugend, in der er selbst Skispringer war; er berichtet von seinen Erfolgen als DDR-Trainer, als Jens Weißflog unter widrigen Bedingungen WM-Gold gewann. Aber er erwähnt auch, wie sich sein Mannschaftsarzt in den Westen abgesetzt hatte - und er erzählt, vom wohl traurigsten Erlebnis seiner Trainerzeit: Von einem jungen Schüler namens Jörg Schönberger, den Heß betreute und der bei einem Sturz auf der Schanze ums Leben kam.

Doch wie bereits erwähnt widmet sich der Hauptteil des Buches seiner Tätigkeit als Bundestrainer - so berichtet Heß über die Zeit, als Dieter Thoma die neue Leitfigur im deutschen Skispringen wurde und natürlich über den Aufstieg der neuen Stars Martin Schmitt und Sven Hannawald bis hin zur grandiosen Saison 2001/2002, als Sven Hannwald alle vier Springen der Tournee gewann und die deutsche Mannschaft den Olympiasieg wiederholen konnte. Zwischendurch kommen auch immer wieder die Wegbegleiter von Reinhard Heß zu Wort; man findet Interviews mit Jens Weißflog, Dieter Thoma, Sven Hannawald, Martin Schmitt und einigen anderen. Abgerundet wird das Buch durch einige Fotoseiten, auf denen sowohl der junge Reinhard Heß als auch seine späteren Schützlinge zu sehen sind. Bei allem, was er schreibt, hält er nicht mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen hinterm Berg, so dass es nicht bei einer reinen Beschreibung der Tatsachen bleibt, sondern dass man immer auch den Trainer und Menschen Reinhard Heß ein wenig näher kennen lernt.

Enttäuscht sein können von dieser Biografie eigentlich nur diejenigen, die sich gar nicht für das deutsche Skispringen interessieren (obwohl es das eigentlich auch nicht trifft, da man nur dann enttäuscht sein kann, wenn sich mehr erwartet hat, als man schließlich bekommen hat), und diejenigen, die auch nähere Informationen über die Ereignisse lesen möchten, die schließlich zum Ende der Trainertätigkeit von Reinhard Heß geführt haben - denn das Buch erschien bereits im Jahr 2002.

Fazit: Für jeden, der sich gern an die große Zeit der deutschen Erfolge erinnert, ist dieses Buch ein echtes Muss!


Auch wenn es nichts mit dem Buch zu tun hat: Vor kurzem bin ich auf Youtube auf ein Video über Reinhard Heß gestoßen - anlässlich seines Todestags (der zwar schon gestern war), möchte ich es hier noch posten:
http://www.youtube.com/watch?v=cjl_5mv0uIY
 

Mario

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Ich habs noch nicht ganz durch - kann bisher aber nur : Genial dazu sagen...

Das einzigste was ich bisher daran kritisieren kann das er das Sport/Trainings-system in der damaligen DDR nicht kritisiert.
 
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Sprungbärchen1

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Er war ein Teil davon, und wohl auch selbst zum größten Teil davon überzeugt. Ich hatte es deshalb beim Lesen auch nicht erwartet.
 

bigboss_16

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Ich habe Ihn immer geschätzt , er ist immer ruhig geblieben , wo der DSV immer Erfolg nach Erfolg eilte .
Wo es eine Saison nicht so lief , hat man ihn plötzlich entlassen und seitdem her kam die Talsohle.
Erstaunlicherweise war das so , als er gegangen ist ...hat sich Martin Schmitt wieder ins Niemandsland wieder gefunden . Der Grund war auch , das die gesorgt haben , das er entlassen wurde....was mich bis heute noch aufgeregt hat. Wenn er noch geblieben wäre , dann hätte man noch weitere Erfolge gefeiert .
Ein klasse Trainer und ein Mensch , der nie die Bodenhaftung verlor . Immer auf hundert Prozet und hat mit Springern...immer das Maximum der Athlethen rausgeholt . Alle Achtung .
 
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Sprungbärchen1

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Ich sage das Gegenteil. Er hätte keine großen Erfolge mehr gefeiert. Der Zenith war eindeutig überschritten.

Die Art wie es gekommen ist, bleibt absolut unschön, aber für mich logisch. Schmitt war schon auf dem absteigenden Ast, und bei Hannawald zeichnete sich auch der Weg ab. Dahinter war dann aber leider keine Substanz mehr. Bei allem Talent eines Michael Uhrmann, man hatte es mehr als nur im Gefühl, dass er kein klassischer Spitzenspringer werden würde.

Die Erfolge waren so gigantisch, da gab es einfach irgendwann keinen Punkt mehr, wo man befriedigend nachlegen konnte. Ich denke so wird es auch irgendwann den Österreichern ergehen, wenn die Jahrhunderttalente Morgenstern und Schlierenzauer aufhören werden. Vielleicht nicht so radikal, aber ähnlich.
 
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Finn-Lady

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Deiner Einführung @Benjamin ist nichts mehr hinzuzufügen. Hab mir das Buch heut aus meinem Regal geholt und wieder drin gelesen.

Dass Heß eben auch diese Geschichten nicht zu erwähnen vergisst, macht das Buch so menschlich.

Genau diese Menschlichkeit macht Heß für mich unvergessen. Steiert und Rohwein konnten ihm da nicht das Wasser reichen (bitte nicht steinigen, ist meine persönliche Meinung).
Natürlich war er "der Trainer", der, der das Sagen hatte - aber er war und blieb Mensch. "Ein Brummbär, mit einem weichen Kern" - Dieter Thoma.
Ich erinner mich an 2 Begegnungen mit ihm - ja, es gab Zeiten, da war ich öfter an der Schanze :hihi:. Als er zu mir am Rande eines Fussballsspiel sagte: "Komm, lass uns mal ein Foto zusammen machen!" Und dabei wollte ich doch nur ein Autogramm. :schaem: Oder als er sich in Hiza trotz allen Stresses Zeit nahm, um mit uns zu tratschen.
Ok, off topic, zurück zur Buchbesprechung.
Ich kann das Buch wirklich nur empfehlen. Eine der besten Biografien, die ich je gelesen hab. :up:
 
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Scheppche

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Offen gesagt hatte ich das Buch ein Jahr lang hier rumliegen und habe nicht darin gelesen. Der Grund dafür: enormer Resepekt vor Reinhard Heß. Irgendwie hatte ich Angst, dass sich dies durch das Buch ändern könnte. Hat es jedoch nicht, im Gegenteil. Es ist großartig was dieser Mann geleistet hat, schon zu DDR Zeiten.
Das Buch lässt sich sehr gut lesen. Einziger kleiner Kritikpunkt für mich, die Fotos sind teilweise unzureichend beschriftet. Ich ließe mich Finn-Lady an, einer der besten Biografien.
Abschließend möchte ich sagen, Herr Heß ist und bleibt eine Legende. (zumindest für mich)
 

Mario

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Nur was mich sehr gewundert hat, das er das System der gesamten DDR verteidigte, obwohl ihm durch die DDR Führungen soviele Steine in den Weg gelegt wurden..
 

Mario

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Er schreibt doch, dass es ihm nicht zusteht das System zu kritisieren und es sei ja auch nicht alles schlecht gewesen.

Was ich mit der Gegenfrage warum steht es ihm nicht zu beantworten könnte ;)

Außerdem gibt es eine eindeutige Stelle wo er das System verteidigt.
 
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Ingrid

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Ich habe das Buch schon vor einigen Jahren gelesen. Ich fand es sehr ehrlich.
Wer nicht selbst in der DDR gelebt hat, kann sich vieles nicht vorstellen. Ich kann das.
 
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yeti

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Er schreibt doch, dass es ihm nicht zusteht das System zu kritisieren und es sei ja auch nicht alles schlecht gewesen.

Das singen ja auch die Prinzen in ihrem neuen Lied ganz schön.

@Ingrid: Jap, jemand der das nicht selbst miterlebt hat sollte sich mit Kritik zurückhalten.
 

Sprungbärchen1

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Nur was mich sehr gewundert hat, das er das System der gesamten DDR verteidigte, obwohl ihm durch die DDR Führungen soviele Steine in den Weg gelegt wurden..

Ich denke er hat hauptsächlich das Sport-System verteidigt. Selbstverständlich hatte dieses auch viele düstere Seiten, aber eben auch eine gewisse Struktur im Bezug auf die Nachwuchsförderung, die bei uns so unbekannt war.
 

Benjamin

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Welche Stelle meinst du denn? Mir fallen eigentlich schon ein paar Stellen ein, an denen er Kritik übt: Auf S. 28 schreibt er, dass er lange Zeit nicht als Trainer zu Austragungsorten in den Westen reisen durfte, weil er dort Verwandschaft hatte - erst, nachdem er schriftlich erklärt hatte, dass er kein Verhältnis mehr zu diesen Verwandten hatte, wurden solche Reisen genehmigt.

"Ich litt unter dieser 'freiwilligen' Entscheidung, die mir erpresserisch vom damaligen System abverlangt worden war, aber ich habe sie zugunsten meines privaten Lebens und zur Weiterentwicklung in meinem Beruf gefällt."

Weiter unten schreibt er, dass ihm später eine Auslandsreise gestrichen wurde, weil er Glückwunschkarten an eine Pension in St. Moritz schickte, wo er mit seinem Team regelmäßig untergebracht war.

"Das sportliche System der DDR will ich nicht verdammen, aber Vorfälle wie diese waren unter aller Menschenwürde."
 

Sprungbärchen1

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Das ging ja nicht nur Sportlern so. Aus jeder kleinen Sache, wurde eine Schikane. Ein weiterer Beweis für den Unrechtsstaat DDR.
 

Mario

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Zum Sportsystem :

"Es geht mir an dieser Stelle nicht um eine Abrechnung mit dem damaligen Sportsystem der DDR, das hervorragende Athleten entwickelte und in dem ich integriert war, in dem ich viel lernte und vom dem ich für meine spätere Arbeit profitierte."

Zum Thema DDR :

S49:

"Ich verteidigte damals das System der DDR, legte dar, dass wir nicht am Verhungern seien, dass es auch soziale Strukturen gäbe, die beispielgebend seien, und dass die Menschen bei uns auch arbeiten."

"Ich war persönlich ungeheuer enttäuscht, vor allem politisch enttäuscht, weil ich an die Grundprinzipien des sozialistischen Staates geglaubt hatte."
 

Finn-Lady

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Zum Sportsystem :

"Es geht mir an dieser Stelle nicht um eine Abrechnung mit dem damaligen Sportsystem der DDR, das hervorragende Athleten entwickelte und in dem ich integriert war, in dem ich viel lernte und vom dem ich für meine spätere Arbeit profitierte."

Ich kann an dieser Aussage nichts grundlegend Falsches erkennen. Rein faktisch hat er Recht – die Erfolgsstatistiken der Jahre sind eindeutig. Ich möchte die Dopingproblematik nicht vergessen, aber die war im Osten wie im Westen gleich.
Ich bin im Westen groß geworden, Du nach dem Mauerfall. Ich denke nicht, dass es uns zusteht, Menschen im Nachhinein zu einer schonungslosen Abrechnung mit einem System zu zwingen, über das wir uns kein Bild machen können. Weil wir es eben nicht erlebt haben.
Wenn man in einem System groß wird, es verinnerlicht oder sich eben damit abfindet, dann ist man davon geprägt. Vllt sucht man auch den Weg des geringsten Widerstands und den Weg über den Sport, um sein Leben zu arrangieren.
Auch der „goldene“ Westen war sicher net 100% - ein bissel was von allem würde uns vllt gut tun. Sagt meine Mum.
Ich rege mich heut noch auf, dass wir als Deutsche kollektiv über einen Kamm geschert werden, weil wir ja im 2. Weltkrieg die „bösen“ Deutschen waren. Das ist mehr als 60 Jahre her. In einem System wie in der DDR aufzuwachsen, ist auch kein Verbrechen und ein Zeichen für Kollektivschuld. Die Mauer ist 20 Jahre gefallen.
Er hat in der DDR und im vereinten Deutschland eine großartige Arbeit als Trainer geleistet. Er ist uns als „Mensch“ in Erinnerung geblieben. Egal, welche politische Meinung er verinnerlicht hatte bzw. vertreten hat.
Ich weiß ehrlich gesagt net, was Du wirklich hören willst. Die DDR und die BR Deutschland sind ein Teil der Geschichte, auf beiden Seiten haben Menschen ihre Erfahrungen gemacht, machen müssen – aber es muss sich keiner dafür entschuldigen, dass er auf der vermeintlich „falschen“ Seite aufgewachsen und geprägt worden ist.
 
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KekX

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Ich habe mir das Buch gebraucht für 2,01 € :)D:) bestellt und jetzt etwa die Hälfte gelesen, und ich kann es nur weiterempfehlen!

Mir gefällt besonders die Struktur. Es ist nicht einfach entlang einer "Zeitleiste" erzählt ("1990 passierte dies, fünf Jahre später das"), sondern es finden sich immer wieder Verbindungen zu früher und Abschnitte, die bestimmten Themen wie Psychologie und Beziehung zu den Fans behandeln. Auch Heß' eigene Ansichten, Gedanken und Gefühle - wie Benjamin ja schon erwähnt hat - machen das Buch absolut lesenswert.
 

Mario

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Ich habe mir das Buch gebraucht für 2,01 € :)D:) bestellt und jetzt etwa die Hälfte gelesen, und ich kann es nur weiterempfehlen!

Mir gefällt besonders die Struktur. Es ist nicht einfach entlang einer "Zeitleiste" erzählt ("1990 passierte dies, fünf Jahre später das"), sondern es finden sich immer wieder Verbindungen zu früher und Abschnitte, die bestimmten Themen wie Psychologie und Beziehung zu den Fans behandeln. Auch Heß' eigene Ansichten, Gedanken und Gefühle - wie Benjamin ja schon erwähnt hat - machen das Buch absolut lesenswert.

Verdammt, ich dachte mein Preis wäre nicht zu schlagen :hihi:
 
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