Dann schalte ich meine Glaskugel mal ein. Grundsätzlich kann ich jeden verstehen, der einen Blick auf die bisherigen Ergebnisse wirft und Pius Paschke zum Favoriten ausruft. Er führt den Gesamtweltcup mit deutlichem Vorsprung an, denn er hat mehr als die Hälfte aller bisherigen Wettkämpfe gewonnen. Ich habe großen Respekt vor den Leistungen, die er in dieser Saison gezeigt hat, und ich habe fast noch größeren Respekt davor, dass er sich überhaupt bis in die Saison 2024/25 durchgekämpft hat, obwohl seine Karriere in einigen Jahren doch recht steinig war. Und selbstverständlich würde ich ihm auch wünschen, dass er noch ein paar weitere Früchte seiner harten Arbeit ernten kann. Er wird - davon bin ich fest überzeugt - die beste Tournee seiner Karriere springen.
Aber gewinnen wird er sie nicht.
So abgedroschen die Phrase auch klingt: Die Tournee hat ihre eigenen Gesetze! Und das bedeutet, dass man - speziell bei den Deutschen - eben nicht nur auf die bisherigen Saisonergebnisse schauen darf! Man muss auch beachten, wie gut sie in den vergangenen Jahren auf den Tourneeschanzen zurecht kamen: Und da gibt es speziell eine Schanze, die meist alle Hoffnungen der Deutschen zunichte machte. Ich spreche natürlich von der Bergisel-Schanze in Innsbruck. Leider scheint diese Schanze auch Pius Paschke überhaupt nicht zu liegen, denn auf kaum einer anderen Anlage hat er in der Vergangenheit so schlecht abgeschnitten: Lediglich ein einziges Mal hat er es hier als 28. überhaupt in die Punkteränge geschafft. Natürlich kann man einwenden, dass er in diesem Jahr deutlich stärker ist als in den Jahren zuvor. Aber so weit hinten war er in der Vergangenheit eben auch nicht, und er wird vermutlich dieses Jahr in Innsbruck deutlich besser abschneiden als früher. Nur: Ein zehnter Platz würde wahrscheinlich schon reichen, um alle Hoffnungen auf den Tourneesieg zunichte zu machen.
Hinzu kommt der Druck, der auf den deutschen Adlern bei der Tournee in ganz besonderem Maß lastet. Pius Paschke konnte in den ersten Wettkämpfen frei aufspringen. Niemand hat etwas von ihm erwartet, und wahrscheinlich hätte auch er selbst vor der Saison nicht damit gerechnet, dass es in der ersten Periode so gut laufen würde. Aber nun ist das anders: Jetzt ist
er der Gejagte! Jetzt ist er derjenige, der von den Medien zum Topfavoriten erklärt werden wird. Und das wird selbst einen so geerdeten Sportler wie ihn zum Nachdenken bringen - so wie es auch bei den anderen Deutschen war, die in den letzten Jahren mit um den Tourneesieg gekämpft haben. Und wie es ihnen erging, wissen wir. Man mag einwenden, dass das doch auch den Springern aus den anderen Nationen so geht. Aber ich sage: Nein, das ist nirgendwo so ausgeprägt wie in Deutschland! Zum einen, weil wir eben die längste Durststrecke aller Topnationen hinter uns haben - zum anderen, weil ein Tourneesieg wohl nirgendwo sonst - außer vielleicht in Österreich - so hoch geschätzt wird. Olympiasieg? Nice to have! WM-Titel? Nice to have! Aber einmal den goldenen Adler zu gewinnen - das ist die Krönung einer jeden Skisprung-Karriere!
Als dritten Punkt würde ich noch die Tendenz der Ergebnisse nennen - und die zeigt im Moment eher nach unten. Pius Paschke hat hier in Engelberg sein bislang schlechtestes Saisonergebnis erzielt. An der Schanze selbst kann es nicht liegen, denn gerade hier hat er ja letzte Saison seinen ersten Sieg geholt. Das ist für mich schon ein Zeichen, dass seine Formkurve leicht nach unten zeigt. Wichtig wäre deshalb ein gutes Ergebnis beim morgigen Wettkampf, damit das heutige Springen eher als Ausrutscher gelten kann. Aber wenn es morgen erneut nicht so gut läuft, dann verfestigt sich der Eindruck einer Tendenz nach unten.
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Wer gewinnt die Tournee also dann? Ich tendiere am ehesten zu Jan Hörl, denn bei ihm gibt es aus meiner Sicht die meisten Punkte, die für ihn sprechen:
- Seine bisherige Saison verlief ebenfalls sehr gut.
- Seine Formkurve zeigt aber eindeutig nach oben.
- Er hat bereits letztes Jahr bewiesen, dass er eine sehr gute Tournee springen kann. Wenn er nicht so viel Windpech gehabt hätte, hätte er vielleicht sogar damals schon in den Kampf zwischen Wellinger und Kobayashi eingegriffen.
- Er kann Innsbruck. Für ihn wäre es also kein Problem, wenn er einen - nicht zu großen - Rückstand mit nach Österreich bringt; er ist in der Lage, den aufzuholen.
Bei Daniel Tschofenig bin ich mir nicht ganz so sicher, ob er schon reif für den Tourneesieg ist. Er hat auf mich in der Vergangenheit oft etwas verbissen gewirkt, wenn es nicht so gut gelaufen ist, wie er es sich erhofft hat. Das ist zwar diese Saison besser geworden, zumal es ihm ja auch gelungen ist, seinen ersten Sieg zu holen. Aber wenn es bei der Tournee wirklich um die Wurst geht, könnte ihm das trotzdem zum Verhängnis werden.
Stefan Kraft muss man natürlich immer auf der Rechnung haben. Bislang hat er zwar einige sehr gute Sprünge gezeigt, aber meist waren ihm seine Mannschaftskollegen noch einen Tick überlegen - und er hatte öfter mal einen schlechten Tag wie auch heute. Und dann ist da noch seine Garmisch-Statistik.
Und dann wäre da noch Ryoyu Kobayashi. Ja, ich weiß, seine bisherige Saison war alles andere als gut. Aber auch bei ihm zeigt die Tendenz eher nach oben, so hat er heute zum Beispiel im zweiten Durchgang den fünftbesten Sprung gezeigt. Und er beherrscht eben die Tourneeschanzen wie kein zweiter. Kein anderer aktiver Springer hat so viele Tagessiege bei der Tournee geholt. Dreimal hat er die Tournee schon gewonnen. Er weiß, dass er es kann, und deshalb traue ich ihm immer noch ein Platz weit vorn zu. Ob es zum Sieg reicht - hm, da bin ich auch skeptisch. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn er am Schluss zumindest vor allen Deutschen liegt.
Falls noch jemand Andreas Wellinger nennen möchte: Nein, an ihn glaube ich nicht. Um Tourneesieger zu werden, braucht man meiner Ansicht nach auch einzelne Sprünge, in denen man überlegen ist - um andere Sprünge auszugleichen, in denen man nicht ganz optimal gesprungen ist. Aber bei ihm lief es in dieser Saison eher so, dass seine Top-Sprünge immer noch nicht ganz reichten, um mit der absoluten Spitze mitzuhalten. Und von seinen schwächeren Sprüngen bräuchte er nur einen einzigen - und die Tournee wäre sofort weg.
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An ein Dark Horse glaube ich nicht. Dazu sind die Topleute einfach zu gut. Jeder, dem ich nur eine minimale Chance auf den Tourneesieg einräume, ist schon zu bekannt, um wirklich als Dark Horse zu gelten. Maximilian Ortner vielleicht? Aber nein, dass er wirklich dieses Jahr die Tournee gewinnt, kann ich mir nicht vorstellen. Oder würdet ihr Gregor Deschwanden noch als Dark Horse durchgehen lassen? Weil er ja auch noch nie ein Springen gewonnen hat? Wie eben Diethart... oder auch Wolfgang Loitzl vor ihren Tourneesiegen.
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Was würde ich mir wünschen? Einen deutschen Tourneesieg natürlich, aber wer ihn holt, ist mir eigentlich egal. Es sei denn, Martin Schmitt schnallt sich nochmal die Sprungski an...