Ich verfolge Anisimova schon seit dem Juniorinnen-Finale in Paris 2016, welches sie gegen Masarova verlor. Ihr Talent war dort schon unverkennlich, doch sie war mental noch nicht stabil genug. Aber auch völlig verständlich, Anisimova war dort gerade mal 14 Jahre alt, während Masarova schon 17 war.
2018 war dann ihr endgültiger Durchbruch bei den Profis. 2016 und 2017 gab es schon erste Achtungserfolge, doch den entscheidenden Schritt machte sie in der vergangenen Saison. Erstmals auf der grossen Bühne erschien sie in Indian Wells, wo sie nach Siegen gegen Parmentier, Pavlyuchenkova und Kvitova (die dort auf eine Siegesserie über 14 Matches hatte) in die vierte Runde einzog. Sie kam zu einer Wildcard in Miami, wo sie Qiang Wang besiegte, sich aber am Fuss verletzte und eine Pause von vier Monaten einlegen musste (was ihre Jahresendplatzierung als 93. noch einmal aufwertet). Auf die US-Hardcourt-Saison hin kehrte sie auf die Plätze zurück und feierte Siege gegen Q. Wang, Babos und Martic, verlor jeweils nur knapp gegen Svitolina und Buzarnescu. An den US Open verlor sie gegen Townsend, ebenfalls mal eine erfolgreiche Juniorin, allerdings direkt in der ersten Runde.
Für Anisimova ging es danach nach Hiroshima, was tatsächlich erst ihr drittes Profiturnier ausserhalb der USA war (ein ITF25-Turnier in Brasilien und die French Open 2017 waren die anderen). Hier erfolgte ein nächster wichtiger Karriereschritt, hier erreichte sie ihr erstes WTA-Finale. Zwar verlor sie dieses gegen Hsieh, zog aber dadurch in die Top 100 ein.
Nun also die ersten Matchgewinne an einem Grand Slam-Turnier. Den Sieg gegen Niculescu konnte man ihr zutrauen, war aber keine sichere Bank. Gerade jemand wie die Rumänin ist mit ihrem Spielstil für eine junge Athletin, die sehr von der Power lebt und noch nicht all zu viele Erfahrungen sammeln konnte, ein sehr unangenehmes Matchup. Den Sieg gegen Tsurenko habe ich ihr eher zugetraut, aber null und zwei durfte man nicht erwarten. Für das spielt Tsurenko normalerweise zu konstant.
In der dritten Runde dann also der grosse Wurf gegen Sabalenka. Eine fast schon beeindruckende Leistung ihrerseits. Sie ist eine der ersten, die es geschafft hat, Sabalenka zu bewegen, was gegen die Weissrussin schon die halbe Miete ist. Zudem gelang es ihr phasenweise, den Aufschlag ihrer Gegnerin zu entschärfen. Der Sieg in dieser Deutlichkeit ist für mich die vielleicht grösste Überraschung der bisherigen Saison, vor allem da Sabalenka nicht einmal schlecht spielte. Es ging ihr schlichtweg zu schnell.
Gegen Kvitova war schlussendlich die Luft etwas draussen. Die Tschechin hat unglaublich viel getroffen und von Anisimova kamen zu viele Fehler. Nichtsdestotrotz kann sie sehr zufrieden mit der Turnierleistung sein, sie wird sich wohl auf Ranglisten-Position 61 oder 62 einfinden.
Anisimova hat massig Potential. Ihre Rückhand finde ich jetzt schon ziemlich beeindruckend und wird bald zu den besten auf der Tour gehören. Auch über die Vorhand kann sie ordentlich Druck entfachen, wenngleich sie dort nicht derart konstant ist wie auf der Rückhand. Der Aufschlag ist (noch) nicht eine solche Bank wie er für ihre Körpergrösse sein könnte. Ihre ansatzlosen Stopps sind derweil eine wahre Augenweide.
Obwohl sie mit 180cm ziemlich grossgewachsen ist, ist sie doch recht flink auf den Beinen. An ihrer Athletik muss sie allerdings noch arbeiten, sie ist alles andere als beweglich. Beispielsweise hat sie sehr viel Mühe mit Bällen in die Füsse gespielt, weitaus mehr als andere. Mit ihrer tollen Fussarbeit ist dies allerdings sicherlich noch etwas, was sie in den Griff kriegen kann.
Ob sie die nächste Dominatorin wird, kann man jetzt kaum sagen. Tendenziell würde ich nein sagen, was allerdings weniger mit ihrem Talent und Potential zu tun hat. Sie wird mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Star der Tour werden und um die Grand Slam-Titel mitspielen. Wäre dies nicht so, wäre ich tatsächlich etwas überrascht. Die Konkurrenz ist allerdings hart. Viele der jetztigen Topspielerinnen sind noch jung und im Bereich 20-26 Jahre (Osaka, Stephens, Pliskova, Svitolina, Sabalenka, Kasatkina, auch Leute wie Ostapenko oder Keys kann man hier reinnehmen) und in ihrem Alter sind ebenfalls viele starke Namen (Potapova, Yastremska, Osuigwe Danilovic, etc.). Und in der nächsten Generation warten bereits die nächsten potentiellen Superstars (Gauff, Tauson, Raducanu, Fernandez). Müsste ich aber einen Tipp abgeben, dann würde ich 3-5 Grand Slam-Titel tippen. Ich bin gespannt, was Anisimova erreichen wird.