Ana Ivanovic im Wunderland
Ana Ivanovic und Novak Djokovic trugen ein Rennen aus, und ganz Serbien schaute gespannt zu. Die Serben sind verrückt nach Tennis, sie haben mit Jelena Jankovic eine weitere Top-Spielerin, auch wenn diese im Schatten Ivanovics und Djokovics steht. Im Rennen ging es darum, wer in Peking die Fahne tragen darf; zuerst führte Djokovic, der zu Saisonbeginn das Australian Open gewann und damit als erster Serbe an einem Grand-Slam-Turnier triumphierte. Doch dann machte Ivanovic ihren Rückstand wett. Sie siegte am French Open und übernahm als Erste ihres Landes die Führung in der Tennis-Weltrangliste. Zwar war Monica Seles schon in den 1990er Jahren die Nummer 1, doch das war, bevor Jugoslawien in seine Teilstaaten zersplittert wurde.
Kurz vor der Ziellinie des Rennens zwischen Ivanovic und Djokovic in Peking hatte das Nationale Olympische Komitee Serbiens nicht die Courage, zwischen den beiden zu entscheiden. Und so wählte es die Pistolenschützin Jasna Sekaric zur Fahnenträgerin. Sie wird am 8. August an der Spitze der serbischen Delegation einlaufen. Der Frust darüber ist vor allem bei Djokovic gross. Gelassen reagiert Ivanovic. Die Spielerin, deren Mimik an Pressekonferenzen bisweilen auf verwirrende Weise an Martina Hingis erinnert, sagt: «Was auch immer passiert – diese Spiele werden eine einzigartige Erfahrung für mich sein.»
Die Spielerin scheint im Leben stets das Positive zu suchen. Das zeigt sich auch, wenn sie ihre Aussagen gegenüber Journalisten immer wieder mit einem Lächeln oder sogar einem lauten Lachen unterstreicht. Manche sagen, es fehle ihr an Persönlichkeit, weil es scheint, als sei sie unfähig, auch nur die leiseste Polemik heraufzubeschwören. Andere sagen, sie strahle ganz einfach die Natürlichkeit und Frische einer 20-Jährigen aus, die jede Minute ihres märchenhaften Lebens geniesse.
Training im leeren Bassin
Ana Ivanovic wurde als Kind nichts geschenkt in einem Land, das vor nicht einmal zehn Jahren noch vom Krieg verwüstet war. 1999 lebte sie wie auch Novak Djokovic unter Bomben. 78 Tage lang flog die Nato Angriffe gegen strategische Objekte in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Ziel war es, das Regime von Slobodan Milosevic in die Knie zu zwingen. Djokovic gibt sich reserviert, wenn er nach diesen dunklen Stunden gefragt wird. Ivanovic hingegen hat ihre Erinnerungen nie verborgen. «Ich weiss noch sehr gut, wie ich zum ersten Mal die Sirenen hörte, die ein Bombardement ankündigten», sagt sie, «ich ging mit meinen Eltern in den Keller. Aber schon bald versprachen wir uns, das nicht mehr zu tun – denn das dort unten, das war kein Leben.»
Die Familie lebte in Angst und hatte mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Und doch trainierte Ana Ivanovic, wenn auch unter schwierigsten Bedingungen. Ungläubig schauten die Leute, als sie später erzählte, sie habe keinen Tennisplatz gefunden und sei deshalb im Winter in ein leeres Schwimmbassin hinuntergestiegen.
Es war ein Schweizer, Dan Holzmann, der schliesslich das Leben Ivanovics in andere Bahnen gelenkt hat. Dank ihm ist die Schweiz für die Sportlerin zur zweiten Heimat geworden. Holzmann wurde vor 37 Jahren in Tel Aviv geboren. Heute ist er eine der entscheidenden Figuren in der Organisation, die um Ivanovic aufgebaut wurde. Ivanovic nimmt heute einen grossen Teil der Zeit von Holzmann in Anspruch, auch wenn dieser noch immer an der Spitze seiner Firma Juice Plus+ steht, die Nahrungsergänzungsmittel auf Basis von Vitaminen produziert.
Holzmann spielt leidlich Tennis. 2001 nahm er im Basler Sportcenter Paradies, wo auch Roger Federer regelmässig trainiert, private Lektionen bei einem serbischen Tennislehrer. Dieser erzählte, es gebe in Belgrad ein talentiertes Mädchen von 13 oder 14 Jahren, das auf Hilfe angewiesen sei. «Ich verstand nicht viel von Tennis, und ich konnte mir nicht vorstellen, was ich für sie tun sollte», sagt Holzmann, «schliesslich hatte ich nicht das fachmännische Auge, um zu beurteilen, ob sie tatsächlich talentiert war.» Seine Firma arbeitete damals zwar mit Sportlern zusammen, etwa mit dem Skispringer Sven Hannawald und dem Formel-1-Fahrer Nick Heidfeld. Im Tennis war Juice Plus+ jedoch nicht engagiert – und dennoch liess Holzmann Ana Ivanovic nach Basel fliegen. «So habe ich sie kennengelernt», sagt er, «und so hat eine Geschichte begonnen, die heute noch andauert.»
Dan Holzmann sagt, er habe sich sofort «verliebt in diesen kleinen Diamanten». Aber er liess sich erst definitiv überzeugen, nachdem sein Freund Carl-Uwe Steeb, ein ehemaliger deutscher Spitzenspieler, Ana Ivanovic in einem Trainingslager auf Mallorca beobachtet hatte. «Als Steeb mir ihr Potenzial bestätigte, setzte ich voll auf sie.» Während all der Jahre ihres Aufstiegs, als Ivanovic nicht in der Lage war, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, übernahm Holzmann alle Kosten für sie und ihre Mutter, die permanent mit ihr unterwegs war. Wie damals abgemacht, hat Ivanovic vor kurzem das Geld zurückbezahlt. Es waren 500 000 Dollar. Was die Hilfe von Holzmann für sie bedeutete, fasst die Spielerin in wenigen Worten zusammen. «Dan hat mein Leben verändert.»
Holzmann war in diesem Fall Mäzen und besonnener Geschäftsmann in einem. Betrachtet man das wirtschaftliche Potenzial von Ivanovic, die in den nächsten Jahren Millionen verdienen kann, so dürfte sich die Investition des Baslers bezahlt machen. Um den Aufschwung seines Schützlings zu begleiten und die Auswirkungen ihres Vorstosses an die Spitze vorwegzunehmen, gründete Holzmann die Firma Dh-Management. Für sie arbeitet auch der frühere britische Journalist Gavin Versi, der unter anderem Agent und Pressesprecher ist. Man darf sich nicht täuschen lassen. Hinter dem charmanten Lächeln und den glamourösen Posen von Ana Ivanovic verbirgt sich eine professionelle Maschine.
Zwei weitere Personen nehmen in ihrem Team wichtige Positionen ein: Sven Groeneveld, ihr niederländischer Coach, und Scott Byrnes, der australische Konditionstrainer. Groeneveld hat schon mit verschiedenen weiblichen Tennisstars zusammengearbeitet, darunter etwa Mary Pierce. Doch er betreut Ivanovic nur in einem Teilzeit-Verhältnis. Der Niederländer wird von Adidas bezahlt und muss sich immer dann zurückziehen, wenn Ivanovic auf eine andere vom deutschen Sportartikelhersteller ausgerüstete Spielerin trifft.
«Ana lernt schnell», sagt Groeneveld, «nach den Niederlagen in ihren ersten Grand-Slam-Finals 2007 in Paris und 2008 in Melbourne zog sie die richtigen Schlüsse.» Sie lernte vor allem, ihre Gefühle besser zu kontrollieren. Dabei half ihr Scott Byrnes, der sie in die Grundlagen der Meditation einführte. Byrnes selbst fand zur inneren Ruhe, als er ein Jahr in einem Kloster an der Gold Coast in Australien verbrachte. Mit Unterstützung von Byrnes gelang es Ivanovic auch, im Lauf der Monate ihre Silhouette zu verfeinern. «Ich fühlte mich nicht sehr wohl in meinem Körper», sagt sie, «ich muss zugeben, dass die Kondition mein Schwachpunkt war. Dagegen habe ich das Nötige unternommen.»
In der Ecke versteckt
Beschäftigt man sich mit dem Ivanovic-Clan, trifft man unausweichlich auf Dragsana, die Mutter. Sie ist im Profi-Circuit an der Seite ihrer Tochter omnipräsent und dennoch sehr diskret – sie weist jede Interview-Anfrage ab. Die Anwältin hat ihren Beruf aufgegeben, um ihre Tochter zu begleiten und zu behüten. «Das Leben im Circuit kann hart sein», sagt Ana Ivanovic, «man begegnet immer wieder Leuten mit schlechten Absichten.» Sie sei deshalb froh, dass ihre Mutter stets da sei. «Ich sehe in ihr meine beste Freundin.» Miroslav, der Vater, sitzt hingegen selten auf der Tribüne.
Selbst für eine Tennisspielerin ist Ana Ivanovic bemerkenswert viel unterwegs. «Ich lebe aus dem Koffer», sagt sie. Einmal in Belgrad, wo sie noch immer bei ihren Eltern wohnt. Dann in Basel, wo sie eine Wohnung besitzt. Hin und wieder in Zürich, beim Training auf den Plätzen des Grasshopper Clubs – oder auch in Genf oder Lausanne. Im Winter lebt die Sportlerin zwei Monate in Australien. «Ich habe Verwandte in Melbourne», sagt sie, «und weil mir die Mentalität der Australier gefällt, verbringe ich gerne etwas Zeit dort.»
Und nun also bald in Peking, wo die junge Frau bestimmt nicht übersehen werden wird. Ihre Popularität spiegelt sich auch in der Tatsache, dass ihre Website zu den meistbesuchten in der Welt des Tennis zählt. «Das ist schon bizarr», sagt die Serbin, «als Kind war ich schüchtern und wollte nie im Mittelpunkt stehen.» Sie habe sich unter Menschen unwohl gefühlt und sich jeweils in einer Ecke versteckt. «Und nun bin ich die Nummer 1 der Welt; alle schauen auf mich, und ich soll auf tausend Fragen antworten.» Ana Ivanovic sagt das mit der Aufgeregtheit eines Teenagers, und ihre Augen strahlen hell. Fast so hell wie eine olympische Medaille.(Info google)