El Superclásico


Nico1

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Ich kopiere mal Auszüge aus meinen Reiseberichten hier rein, weil ich denke, es könnte für manchen Fußballfan interessant sein. Hatte leider keine Zeit, nochmal extra drüberzugehen.

Vorspiel Teil 1: Boca - Lanús
Am Mittwoch war ich das erste Mal beim Fußballspiel in der „Bombonera“, wie das Stadion des berühmten Fußballclubs Boca Juniors heißt, für den auch Diego Maradona schon seine Fußballschuhe geschnürt hat. Aktueller Starspieler ist Juan Riquélme, der nach einem Jahr in Barcelona und vier Jahren bei Villareal in Spanien zu seinem alten Club zurückkehrte. Angeblich ist er ein verwöhntes Weichei und kommt mit dem Konkurrenzkampf in den europäischen Teams nicht klar. Für die Nationalmannschaft spielt er nicht, weil er mit dem derzeitigen Nationaltrainer Diego Maradona im Zwist liegt.

Weil aus meinem Freundeskreis niemand mitkommen wollte, stellte ich eine Annonce bei einer Expats-Website rein, woraufhin sich eine junge Engländerin namens Christine meldete, die mitkommen wollte und noch ihren kolumbianischen Mitbewohner mitbrachte. Wir mussten bereits tagsüber zum Stadion fahren, um dort die Tickets zu kaufen, obwohl das Spiel erst am Abend stattfand. Leider gab es nur noch die teuerste normale Kategorie – mit umgerechnet 35 Euro kamen wir aber immer noch ordentlich weg. Zudem hatten wir Sitze in den normalen Rängen, und nicht in den Plateos, bei den Stehplätzen, über die mir Günni und Alan allerhand schlimme Geschichten von Kokainkonsum über ausufernde Gewalt erzählten. Alan machte mir richtig Angst vor dem Stadionbesuch, die noch dadurch gesteigert wurde, dass jemand aus dem Expat-Forum vor zwei Tagen in Recoleta überfallen wurde, und daraufhin sämtliche Mitglieder dort ihre Erfahrungen von Überfällen ins Forum stellten. Man muss wohl doch immer die Augen offen halten. Das Stadion ist in einem ziemlich schlechten Bezirk namens La Boca (der Mund), der wiederum aus zwei Teilen besteht, die durch einen Kanal getrennt sind. Im Touristenführer steht, man solle keinesfalls die Brücke überqueren. Das Stadion ist aber auf der sichereren Seite.

Letztendlich war es im Stadion und auch davor gar nicht so wild, was wohl auch daran lag, dass es in Strömen regnete. Als wir abends erneut am Stadion ankamen und aus dem Taxi ausstiegen, zog ich sofort mein T-Shirt aus und verstaute es in meiner Hose. So hatte ich das Spiel über, wo wir durch ein Dach geschützt waren, trockene Kleidung. Direkt neben uns feierten die Fußballverrückten Fans in den Plateos ab und wir genossen die Atmosphäre, machten Fotos und Videos. Die Fans hier singen eigentlich das ganze Spiel über diverse Lieder mit teils emotionalen, teils innovativen, teils vulgären Texten. Das Stadion hat eine eigentümliche Form – auf drei Seiten begrenzt von normalen, zweistöckigen Tribünen, aber die VIP-Logen der Gegentribüne sind einfach wie ein steil aufragendes Haus gebaut. So gleicht die Form des Stadions eher einem Baseballstadion, oder eben einer Pralinenschachtel – daher der Name „Bombonera“.

Das Feld war wegen des Regens in einem erbärmlichen Zustand. Viele Pässe blieben auf halbem Wege in einer Pfütze hängen, was mitunter zu kuriosen Situationen führte. Boca beschränkte sich auf eine Kick-and-Rush Taktik in der Hoffnung, durch die Bodenverhältnisse würde die ein oder andere Chance herausspringen. Das klappte auch in der zwölften Minute, als Medel nach einem schönen Doppelpass einschob. Bis auf einen Freistoß vom das ganze Spiel über herausstechenden Riquelme, den man schon im Tor sah, blieb Boca in der ersten Halbzeit blaß. Der Gegner Lanús versuchte sich hingegen im Kombinationsspiel und wurde nach mehreren Chancen mit dem Ausgleich belohnt, als sich ein Außenstürmer stark an der Torlinie durchsetze und den Stürmer Castillejos mit einer schönen Flanke bediente, die per Kopfball zum Torerfolg führte. In der zweiten Halbzeit machte Boca mehr Druck, erzielte nach einer fantastischen Kombination in der 47. Minute das 2:1. Kurz später hatte Boca die Möglichkeit, auf 3:1 zu erhöhen, doch viel Glück und der Pfosten ersparte Lanús den Gegentreffer. Acht Minuten später machte Boca dann aber nach einem Eckball den Sack zu.

Nach dem Spiel war es unmöglich, ein Taxi zu finden. Auch die Busse wollten einfach nicht kommen. So spazierten wir ewig Richtung San Telmo, da uns dieser Teil von La Boca nicht besonders gefährlich erschien. Vielleicht unterlagen wir einer Fehleinschätzung, denn als wir von einem Imbiss aus ein Taxi bestellen wollten, sagten uns sämtliche Taxiunternehmen ab – in La Boca nehmen sie nur Kunden auf, die persönlich registriert sind, weil sie Angst vor Überfällen haben. Nach sicher einer Stunde fuhr uns dann an einer Kreuzung doch noch ein freies Taxi über den Weg. Ich werde versuchen, am 21. März zum „Superclásico“ zwischen River und Boca in die Bombonera zurückzukehren.

Vorspiel Teil 2: River Plate - Rosario
Zwei Tage später war ich mit ein paar argentinischen Bekannten beim Fußballspiel von River Plate gegen Rosario Central. Da es 0:0 ausging, muss ich noch einmal wieder kommen. River ist sozusagen der Ober- und Mittelschichtenclub in Buenos Aires und der große Rivale der Boca Juniors. Wegen besseres Geldzuflusses ist River mit 33 Meisterschaften Rekordmeister (vor Boca mit 23, aber nicht vergessen, die Meisterschaft wird hier jedes halbe Jahr vergeben). Das Stadion liegt recht abgelegen in einer großen Parkanlage, in der auch das Hippodrom ist. Dort muss man ärgerlicherweise auch zum Ticketkauf am Vortag hin, ein ganz schöner Aufwand also. Das Stadion fasst über 50.000 Zuschauer, hat kein Dach und ist ziemlich schön. Die Zuschauer sind durch einen idiotischen Mini-Wassergraben von der Laufbahn abgetrennt, der nicht der Sicherheit, sondern dem Wasserabfluss dient. Allerdings rollen auch die Bälle ständig bergab in den Graben; Balljunge zu sein macht in anderen Stadien sicher mehr Spaß.

Vor dem Spiel trafen wir uns an einer Busaltestelle und tranken Fernet. Fernet ist eine Art Kräuterschnaps, den man mit Cola und Eis „genießt“. Es schmeckt ähnlich wie Jägermeister mit Cola und ist der argentinische Longdrink schlechthin. Die Mischung der Jungs war aber recht harmlos. Dafür kifften meine Bekannten das gesamte Spiel über und waren dementsprechend gut gelaunt. Ihre Aussprache wurde jedoch schlampig und ich hatte Probleme, sie zu verstehen.

Der Superclásico
Am letzten Sonntag machte ich mich mit meinem Ticket für den Superclásico auf zu einer Straßenecke weit entfernt vom Stadion, um dort Juan zu treffen, den River Plate Fan, mit dessen Gruppe ich bereits im Stadion von River gewesen war. Außerdem hatte ich einen aus Argentinien stammenden Israeli namens Gabriel eingeladen, den ich im Hostel beim Abholen meines Tickets kennen gelernt hatte. Weil es wie aus Eimern regnete, nahm ich ein Taxi zum Treffpunkt. Nach einer Viertelstunde kreuzte Juan auf und wollte sofort mit dem Auto weiterfahren, in dem sowieso nur noch ein Platz für mich frei war. Ich musste aber noch auf Gabriel warten und wir machten aus, dass wir uns in der Nähe des Stadions beim Treffpunkt der River-Fans treffen würden. Gabriel stellte sich beim Finden des Treffpunkts reichlich ungeschickt an, nahm ein Taxi zur falschen Straße, wartete ewig am falschen Block trotz meiner genauen Anweisungen, und kam schließlich eine Stunde zu spät.
Dafür übernahm er dann das Taxi Richtung La Boca. Weil wir uns in der Eile noch kurz bei McDonalds stärkten, schafften wir es nicht mehr, Juan vor dem Spiel zu treffen, und begaben uns direkt ins Stadion. Vom kurzen Fußweg waren wir bereits völlig durchnässt und kauften uns für je 2 Euro Billig-Ponchos aus Plastik. Die Polizei schickte uns mit unseren Tickets für den Gästeblock erst einmal zu den Eingängen der Boca-Fans. Ich möchte durchaus böse Absicht unterstellen... wir passierten dann etliche Straßensperren, bis wir auf der richtigen Seite waren. Der Gästeblock in der Bombonera ist auf der Obertribüne. Wir rannten die Treppen hoch und kamen außer Atem oben an. Die Fans von River drängten sich bis in den Eingang in einer Menschentraube, die auf den ersten Blick das Durchkommen aussichtslos erscheinen ließ. Wir drängten uns aber Schritt für Schritt vor und standen schließlich wie die Ölsardinen zusammengepresst zwischen den Fans. Ständig drängten sich immer mehr Leute vorbei; es war so eng, dass man gar nicht kontrollieren konnte, in welche Richtung man geschoben wurde. Wir mussten pausenlos aufpassen, dass wir durch den Druck von oben nicht zerquetscht wurden. Irgendwann war ich an einem Geländer angelangt und dachte, da könnte ich mich jetzt gut abstützen. Keine Chance. Man hat dort wohl nur die Wahl, ob man seine Rippen oder seine Innereien quetschen lassen möchte.

Die Fans machten mit ihren Trommeln und Gesängen bereits ordentlich Stimmung, das Stadion war voll, und beim Einlaufen der Spieler wurden mit einem großen Knall überall lange Papiergirlanden, oder wie auch immer man sie nennen mag, zusammen mit anderer Papierdeko vor den Rängen der Fans heruntergelassen. Gänsehaut! Der Start des Spiels verzögerte sich noch ordentlich, auf die Stimmung der Fans drückte das aber nicht. Die Boca-Fans wurden bereits mit Schmährufen bedacht:

„Im Viertel von Boca wohnen nur Bolivianer
die auf den Bürgersteig ******en und sich mit der Hand abwischen
Samstags beim Tanzen besaufen sie sich
und in den Urlaub fahren Sie zum Strand des Riachuelo (der dreckige Fluß, der durch La Boca führt)
Mutter, wir müssen sie alle umbringen
damit nicht ein einziger „Bostero“ (= Boca-Fan) übrig bleibt.“

Der Spitzname „Bosteros“, was ungefähr so etwas wie „die Zugeschissenen“ bedeutet, wird auch von den Boca-Fans selbst verwendet, seit der Riachuelo vor Jahren einmal über die Ufer trat, das Stadion überschwemmte, und nach dem Abfließen das Wassers ein Spielfeld voller Exkremente zurück blieb.
Der Regen goss weiterhin in Strömen, und nach dem Anpfiff stellte sich sofort heraus, dass das Spiel eine Schlacht würde. Pässe blieben auf halber Strecke liegen, der ganze Platz war von Pfützen übersät. Nach wenigen Minuten unterbrach der Schiedsrichter das Spiel, damit die ganzen Girlanden vom Spielfeld entfernt werden konnten – unverständlich, wieso das nicht vorher schon geschah. Das Problem des Regens blieb aber weiterhin bestehen, und nach neun Minuten Brutto-Spielzeit verließen die Mannschaften und das Schiedsrichtergespann das Spielfeld. Spielabbruch! Von den Hardcore-Fans in den „Populares“ wurde das kaum wahrgenommen, während die „Plateas“ sich langsam räumten. Wir machten weiterhin fleißig Stimmung, bis wir ungefähr eine halbe Stunde später das Stadion verlassen durften. Das Erlebnis war einmalig und meine Ärgernis darüber, dass ich für ein 90-Euro-Ticket nur ein 10-Minuten-Spiel sehen konnte, weil ich davon ausging, dass das Nachholspiel erst gegen Ende der Saison stattfinden würde, hielt sich in Grenzen.
Inzwischen war ich bis auf die Unterhose nass. Nach einem Fußmarsch über mehrere Blöcke mit auffallend wenig Polizeipräsenz, obwohl auf dem Weg Fans von Boca und River zusammen trafen, kamen Gabriel und ich am Busterminal an, wo einige Busse der Linie 152 warteten, die allerdings nur ungefähr 12 Blocks von meiner Wohnung entfernt hält. Auf die Busse der anderen Linien warteten wir eine halbe Stunde lang vergeblich. Wahrscheinlich ist es nach den Spielen zu gefährlich, und die Busse fahren deshalb nicht die volle Tour. Gabriel hantierte ununterbrochen wie wild an seinem Handy herum, das nass geworden war und nicht mehr funktionierte. Schließlich nahmen wir den 152er und nach einer halben Ewigkeit kam ich endlich pitschnass zuhause an. Es war mein letzter Tag in der Wohnung, also hängte ich die Sachen soweit möglich vor die Klimaanlage und begann, meinen Koffer zu packen. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass nun auch auf meinem Handy einige Tasten nicht mehr funktionierten. Nach einer Odyssee, die das Ausleihen des Handys eines Nachbars, eines Kioskverkäufers, diverse Koordinationsaktionen über Internet, Freunde, die Freunde für mich anrufen usw. enthielt, kam ein Kumpel bei Facebook online, den ich unbedingt kontaktieren musste, weil ich den Großteil meiner Sachen bei ihm lassen würde, wenn ich mich am nächsten Tag mit kleinem Gepäck auf den Weg nach Uruguay machen würde.

Eigentlich war für den Sonntag Abend noch eine Party eingeplant, aber daraus wurde wegen den ganzen Scherereien nichts. Im Internet wurde das Nachholspiel für Mittwoch angekündigt, ein Nationalfeiertag in Argentinien. Der Innenminister hatte auch gleich Widerspruch eingelegt, weil an diesem Tag den Opfern der Militärdiktatur gedacht werden sollte, und er nicht für Veranstaltungen wie Fußballspiele gedacht ist. Der Termin war also offen, und ich würde von Uruguay aus die Lage verfolgen müssen. [...]

Inzwischen war der Termin für das Nachholspiel nämlich für Donnerstag, 15:45 festgelegt worden. Die Entscheidung zog den Unmut der Fans auf sich, von denen viele um diese Zeit arbeiten müssen. Wegen der Dunkelheit und dem höheren Alkoholkonsum vor Abendspielen findet der Superclásico jedoch immer nachmittags statt, und die Wochenenden waren bereits alle durch andere Spiele belegt. Der Feiertag wurde wegen des Einspruchs des Innenministers nicht genutzt, und so blieb nur ein Wochentag. Ich entschloss mich, für das Spiel zurück nach Buenos Aires zu kommen, und statt nach Punta del Este in Uruguay lieber in Argentinien ans Meer zu fahren. Schwierig gestaltete sich der Ticket-Umtausch. Zum einen war mein Ticket so naß geworden, dass bis auf eine Seriennummer auf der Rückseite nichts mehr zu erkennen war. Zum anderen ließ das israelische Hostel, bei dem ich das Ticket gekauft hatte, lange offen, wie der Umtausch funktionieren würde. Ich musste von Montevideo aus dort anrufen und bekam zwischenzeitlich sogar mitgeteilt, dass ich das Spiel von der Boca-Seite aus verfolgen müsse. Der Umtausch gestaltete sich für das Hostel schwierig, weil für jedes Ticket ein argentinischer Ausweis beim Umtausch verlangt wurde. Letztendlich kaufte das Hostel aber neue Tickets, ohne dass ich einen Aufpreis zahlen musste.
Am Donnerstag stand ich also früh auf und nahm mit einem jungen Kerl aus Memmingen, der ebenfalls zu dem Spiel fuhr, ein Taxi zum Busterminal. Von dort ging es nach Colonia und dann mit einer schnelleren Fähre nach Buenos Aires. Mit dem Taxi fuhr ich ins Hostel, holte das Ticket ab, brachte meine Sachen zu einem Kumpel und traf mich dann mit dem River-Fan Juan in La Boca gegenüber des Bus-Terminals, wo viele River-Fans sich versammelten. Der Weg zum Stadion, der an den kleinen zweistöckigen Häusern vorbei durch La Boca führt, war noch abgesperrt. Wir versuchten, für einen von Juans Freunden noch ein Ticket zu kaufen, bekamen aber nur gefälschte Tickets angeboten. Wenn man über die Vorderseite der Originaltickets kratzt, wird die weiße Oberfläche schwarz. Die Betrüger sind scheinbar nicht in der Lage, diese Art von Papier nachzumachen.

Plötzlich wurde es laut, Polizei marschierte auf und von einem Polizeibus und Polizisten auf Motorrädern eskortiert fuhren die drei Busse der „Barra Brava“ (= Hooligans) von River Plate ein, welche die Stimmung im Stadion organisieren, Fahnen und Transparente zur Verfügung stellen und auch die berühmten langen Bänder, die sich von unten nach oben durch die südamerikanischen Fanblocks ziehen, anbringen. Nach dem Passieren der Busse wurde die Straße sofort wieder abgesperrt, eine Dutzendschaft von bedrohlich aussehenden Polizisten mit Schlagstöcken aus Metall und Holz, Gewehren mit Gummigeschossen, Pistolen im Halfter und den bekannten Schutzschildern und –masken marschierte auf und machte den Zugang zum Stadion sofort wieder dicht.

Kurz später kam es zu tumultartigen Szenen, weil nun ein kleiner Korridor am Eck neben einer Treppe geöffnet wurde, um die Fans langsam durchzulassen. Hunderte Fußballverrückte versuchten, sich gleichzeitig durch den Korridor zu drängen, vor allem auch solche mit gefälschten Tickets, die hofften, auf diese Weise zumindest die erste Sicherheitskontrolle überwinden zu können. Die Stimmung wurde aufgeheizt, mehrere Male mussten wir vor den Polizisten zurückweichen, Aggression und Angst lagen in der Luft. Viele Fans hielten beide Arme in die Luft, sobald es lauter wurde. Über die Treppe fielen die Fans in den Korridor, während sich andere von der anderen Seite hineindrängten. Die Tickets mussten wir ständig nach oben halten, und irgendwie schafften auch wir es unbeschadet durch den Korridor, während vor mir jemand auf den Boden fiel und die nächsten paar Fans einfach über ihn trampelten, bis die Polizei eingriff.

Nun begann der Weg zum Stadion, der fast einer Hetzjagd glich. Juan bekam einen Schlag eines Polizisten auf den Rücken, obwohl er in keinster Weise provoziert hatte oder dem „Hijo de Puta“ auch nur nahe gekommen war. Wir rannten von einer Absperrung zur nächsten, auch weil das Spiel schon bald beginnen würde. Mehrere Male wurden wir mehr schlecht als recht nach Waffen abgetastet. Auf dem Weg war immer die Hand mit dem Ticket oben. Mehrere Fans ohne oder mit gefälschten Tickets wurden unterwegs aus dem Verkehr gezogen. Wir passierten sämtliche Sicherheitskontrollen, von denen die letzte das Drehkreuz im Stadion ist. Danach befindet man sich sozusagen im rechtsfreien Raum, denn die Polizei traut sich nur selten in die Populares, weil sie dort im Notfall wegen des Gedränges und der aufgeheizten Stimmung hoffnungslos untergehen würde. In einem der Schmährufe gegen die Boca-Fans heißt es: „Ihr seid Freunde der Polizei.“ Die Ordnungshüter sind der gemeinsame Feind sämtlicher Fangruppierungen.

Ob es am Nachmittagstermin am Arbeitstag oder an verbesserten Kontrollen lag, die Populares von River Plate waren diesmal nicht so krass überfüllt wie am vorigen Sonntag. Diesmal stieg der Eröffnungsknall mit vielen großen Konfetti-Fetzen, welche man größtenteils vergeblich mit den „Laub-Pustern“, die oft in Parks verwendet werden, vom Spielfeld zu entfernen versuchte. Idiotisch. Der Rest des Spiels wurde nun in zwei 41-minütigen Halbzeiten ausgetragen. Boca machte von Anfang an Druck und ging, soweit ich es durch die vielen Fahnen und Fans sehen konnte, nach einer Ecke in der elften Minute in Führung. 30.000 Boca-Fans skandierten nach dem Jubel Provokationen zum River-Block, der unbeirrt weiter sang, als ob das Gegentor nie gefallen wäre. Juan begann wie immer, einen Joint nach dem anderen zu rauchen. Lange wurde der bekannteste Schlachtruf wiederholt:

„Auf geht’s Meister, wir werden gewinnen
wo immer du spielst, werden wir springen,
ich werde dich vom Block aus anfeuern
ich möchte sehen, wie du Meister wirst
Ich bin aus dem ‚Gallinero‘ (= Hühnerstall, Spitzname des Stadions von River Plate)
weil wir Eier haben
wir jagen die in Rot (= die Fans von Independiente), und auch die Bosteros (= Fans von Boca)
ich folge dir überall hin, Millonario (= River Plate, Spitzname u.a. „Los Millionarios“)
ich komme, um dich anzufeuern.“

Der Deutsche aus Memmingen war in den Boca-Plateas unter dem River-Fanblock. Er hatte erzählt, dass die Fans von oben auf die Boca-Anhänger immer wieder durch den Zaun auf die Boca-Fans darunter pinkeln würden, was Juan bestätigte, ich aber nicht mit eigenen Augen sah. Zu meiner Überraschung kamen drei Polizisten in den Fanblock, Ausschau haltend nach einem Fan, den sie aber scheinbar nicht ausmachen konnten. Die River-Fans benahmen sich ordentlich, wahrscheinlich wollte auch niemand die Partie verpassen. Juans Freund war irgendwie noch an ein Ticket gekommen und hatte uns in den Populares gefunden.

River hatte eine gute Chance zum Ausgleich, der Stürmer scheiterte aber in einer 1:1-Situation am Torwart von Boca. In der Halbzeit ruhten sich die Fans aus und es blieb still im Stadion. In der zweiten Halbzeit spielte River offensiver, nutzte aber nicht die Räume auf dem Spielfeld und agierte viel zu oft über die linke Seite. Boca erhöhte nach einer schönen Kombination etwas unverdient auf 2:0. Danach nahm River zwar das Zepter in die Hand, hatte diverse Chancen und spielte die letzten 12 Minuten sogar nach einem Platzverweis für Boca in Überzahl, konnte aber keine der Gelegenheiten nutzen. Fünf Minuten vor Ende begannen die River-Fans, sich mit der Niederlage abzufinden, und skandierten ohne Unterlass einen Song der Treue zum Verein:

„Olé olé olé olé olé olé olá,
Olé olé olé jugando bien o jugando mal, /ob du gut oder schlecht spielst
Ooooooooh, yo te quiero, / ich liebe dich
a mi importa nada, / mir ist alles egal
te vengo alentar / ich komme um dich anzufeuern“

Die zweite Halbzeit verbrachte ich zum Teil im Herzen der Barra Brava, die sich im Falle von River Plate „Los Borrachos del Tablón“, „Die Betrunkenen vom Fanblock“ nennen. Als ich Fotos mit meinem Handy schoss, wies mich Juan darauf hin, dies besser zu unterlassen, weil die Hooligans das nicht so gerne sehen. Prinzipiell sieht die Barra Brava von River Plate gar nicht besonders gefährlich aus, zumindest nicht im Vergleich zu deutschen Hools. Das liegt aber wahrscheinlich daran, dass Südamerikaner nunmal kleiner und die meisten nicht so aufgepumpt sind. Tatsächlich haben die Hooligans es hier aber faustdick hinter den Ohren und sind mit unseren reinen Schlägertrupps nicht vergleichbar. Die Barra Bravas der Clubs in Argentinien sind sehr einflussreich, weil die Club-Präsidenten von den Mitgliedern gewählt werden und sie die meisten Stimmen kontrollieren. Im Gegenzug erhalten sie die Lizenz zum Geld drucken, weil sie ein hohes Ticketkontingent erhalten, das zum Teil auf dem Schwarzmarkt landet; außerdem organisieren sie Fahrten zu Auswärtsspielen und kontrollieren den Drogenhandel im und um das Stadion. Der Umsatz der größten Barra Bravas wird auf 300.000 Dollar im Jahr geschätzt, was ungefähr einer dreiviertel Millionen Euro bei uns entspricht. Wenn so viel Geld von Menschen aus armen Verhältnissen kontrolliert wird, dann ist die Gewalt natürlich auch nicht weit. Vor zweieinhalb Jahren wurde aufgrund eines internen Machtkampfs ein Hooligan von River Plate auf der Straße erschossen. Noch heute hängt ein Banner bei jedem Spiel im Stadion, das Gerechtigkeit für seine Mörder fordert – die das Transparent wahrscheinlich selbst autorisiert haben.

Ansonsten richtet sich die Gewalt auf die gegnerischen Fans, hat in den letzten Jahren aber stark abgenommen. Der Superclásico beispielsweise hatte vor acht Jahren sein letztes Todesopfer zu verzeichnen, als ein vierzehnjähriger Junge meines Wissens im Rahmen einer Massenschlägerei starb. 1994 und 1996 ließ Miguel Barrita, damaliger Anführer der Boca Barra Brava, jeweils zwei River-Anhänger hinrichten. Im Fernsehen meinte ein vermummter Boca-Anhänger nach den 0:2-Niederlage 1994 bezüglich der beiden Morde: „Wir haben zum 2:2 ausgeglichen.“

Die schwärzeste Stunde des Superclásico ist allerdings schon länger her. 1968 starben 74 Menschen bei einer Massenpanik nach dem Spiel, als Boca-Fans brennende Zeitungen in die Menge warfen und die fliehenden Massen gegen einen abgeschlossenen Ausgang drängten.

Ich habe den Superclásico letztlich problemlos überlebt. Nicht, dass vom Gegenteil auszugehen war. Am Abend war ich aber ziemlich platt und schonte mich. Fieber kam zu meiner Erkältung hinzu...
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Weitere Infos u.a. hier:
http://www.11freunde.de/geschichtsstunde/119778
Allerdings nicht den falschen Hinweis auf den Observer glauben...der hat lediglich 50 empfehlenswerte Sportereignisse ohne Ranking gelistet, und der Superclásico wurde halt zufällig als erstes genannt. Ich glaube der Lonely Planet hat das dann zuerst falsch interpretiert, und alle anderen Medien haben es übernommen...
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

steb

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:jubel: großartig, kompliment für die detailierte erzählung, sehr interessant zu lesen... :thumb:

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