Je mehr man über den Mannschaftswettkampf nachdenkt, desto mehr fällt einem auf, wie sehr dieses Mosaiksteinchen im Biathlon-Gesamtspektrum fehlt. Die Wiederkehr der Disziplin würde nicht nur viele interessante Aspekte beisteuern, sondern könnte sogar Anstoß sein, um in mancherlei Hinsicht Verbesserungen bei den jetzt bestehenden Strukturen zu erreichen.
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Gleich auf den ersten Blick fällt die einzigartige Ästhetik dieser Disziplin auf. Und damit sind wir auch schon auf ein heutiges Übel getroffen. Damals in den 90ern waren die Biathlon-Kleidungen freimütiger, vielfältiger, markanter. Gerade die extravagantesten Designs, die als Einzelstück vielleicht nicht zeitlos Jedermanns Geschmack sein mögen, entfalteten in der Vierergruppe eine teils kaum zu begreifende Schönheit. Mit den derzeitigen Biathlon-Kleidungen würde man dieses Potential gar nicht nutzen können. Wieso bloß kam es nach den herrlich freien Zuständen in den 90ern später zu der selbstgewählten Einengung von heute? Es kann keinesfalls richtig sein, daß sämtliche Biathlon-Kleidung sich an insgesamt ca. zehn verschiedenen Farbkombinationen von ca. zwei Dutzend Nationalflaggen orientieren muß, völlig ohne Abstimmung mit den Gegnern, mit denen man vermischt im Gelände unterwegs ist. Und dann werden oft noch einheitliche offizielle Leibchen drübergestülpt, die ihrerseits nicht die geringste Rücksicht auf das Kleidungsdesign nehmen. Der Mannschaftswettkampf mit seinem ästhetischen Potential würde uns dazu veranlassen, wieder mit anderen Augen an diese Sache heranzugehen.
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Erste Stufe auf dem Weg zur Wiedereinführung wäre es natürlich, die Mängel zu untersuchen, mit denen damals anscheinend so sehr gehadert wurde. Nur kenne ich sie nicht. Schaut man sich heute die Videos an, kommen einem vielleicht die Phasen des untätigen Wartens befremdlich vor. Aber doch auch nur deshalb, weil wir es vom Biathlon momentan so nicht gewohnt sind. Daß Sportler bei der Ausübung ihres Sports Pausen machen, ist ansich nichts Seltenes (man denke z.B. an Tennis oder Eishockey, wo die Akteure mitten in den Wettkämpfen auf Bänken und Stühlen relaxen). Beim Biathlon ist die abrupte Belastungsänderung doch sogar das Wesensmerkmal schlechthin. Auch das Nichtbewegen ohne Schießen entspricht von den körperlichen Anstrengungen her diesem Sport, nur daß dann halt teilweise das Konzentrationserfordernis fehlt. Jedoch, so könnte ich mir vorstellen, paßt das vielleicht gerade gut zusammen, denn anders als in allen anderen Disziplinen kann man beim Mannschaftswettkampf auf der Strecke nicht bei Bedarf kurzerhand einen Gang runterschalten, weswegen die freien Pausen womöglich sehr willkommen und manchmal für einzelne Mitglieder der Kollektive regelrecht die Rettung sind.
Überhaupt kein Verständnis habe ich für die damalige Umstellung auf die Sprintdistanz und damit verbunden das Parallelschießen zweier Mitglieder. Erstens wirkt das zu willkürlich ausgedacht. Zweitens ist es weitaus zu unübersichtlich. Drittens kann man sich das nicht mit angucken, wie der zuerst fertige Schütze noch am Schießstand abgammeln muß, bis es weitergeht. Dies wäre ja auch bei drei- oder vierfachem Parallelschießen der Fall, so daß ich nur alleiniges Schießen und mithin eine längere Strecke befürworten kann. Ob es nun die Distanz wie beim Einzel sein soll, oder was dazwischen, weiß ich nicht, und vielleicht braucht diese Disziplin da auch gar keine strenge Festlegung. Viertens übrigens ergibt es auch schönere Bilder, wenn zu dritt anstatt nur zu zweit aus dem Wartepferch wieder herausgestürmt wird.
Einen Punkt, den ich sicher gegenüber früher ändern würde, ist die Art der Bestrafung für Fehlschüsse. Strafrunden passen weder gestalterisch zu Langdistanzen noch stilistisch zu einem als Gruppenblock durchzuführenden Rennen. Das Intervallstarten muß man doch für Verrechnungen bei der Zeitmessung nutzen. Und dazu hätte ich den Vorschlag, in dieser Disziplin nur Belohnungen zu verteilen, keine Strafen. Soll heißen, daß andersherum als beim Einzel keine Zeit für Fehlschüsse obendraufkommt, sondern daß für jeden Treffer die Zeit vermindert wird.
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In den letzten Tagen beschäftigte ich mich mit dem Verhältnis zwischen Mannschaftswettkampf und Staffel. Was mir da nach und nach so aufging, macht mich ganz schön baff. Wir sind uns gar nicht bewußt, welch wunderbare Komplementäre wir innerhalb einer großartig facettenreichen Sportart haben bzw. hätten. Mein Bild von der Staffel ist jetzt plötzlich ein anderes geworden, ich sehe sie nicht mehr so absolut und im Zentrum befindlich, wie man sie uns immer verkauft. Hier mal meine Notizen dazu:
| Staffelprinzip
(Staffel, Mixed-Staffel, Single-Mixed-Staffel) | Blockprinzip
(Mannschaftswettkampf) |
Streckenlänge | Es ist nicht unbedingt systemimmanent, aber um die Wettbewerbszeit kompakt zu halten, fallen die Streckenlängen für die einzelnen Sportler extrem kurz aus (noch kürzer als im Sprint). Daran, daß auch bei der Single-Mixed-Staffel die Strecke ohne Not so kurz ist, sieht man, daß das Staffelprinzip zur Herstellung von Hochgeschwindigkeitsrennen genutzt wird. | Eignet sich als Gegenpol und wurde auch ursprünglich auf die längste Distanz angesetzt (die selbe wie im Einzel). Kürzere Strecken sind möglich.
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Lastigkeit
Laufen/Schießen | Ist von der absoluten Anzahl der Schießeinlagen (acht) her, als auch in deren Verhältnis zur Streckenlänge, ausgesprochen schießlastig. Zwar machen es die reinen Regeln hier in Wahrheit am einfachsten, die mit Fehlschüssen verbundenen Nachteile gering zu halten, jedoch hebt das Athletenfeld das Draufgängertum automatisch so weit an, bis der Schießstand kritische Unterschiede erzwingt. | Ist subjektiv für die Sportler angesichts nur einer Schießeinlage (und verhältnismäßiges Strafmaß für Fehlschüsse vorausgesetzt) äußerst lauflastig. Dem Zuschauer bietet sich aber auf magische Weise trotzdem der typische ausgewogene Eindruck. |
Erfolgsaussichten | Das Kollektiv ist so gut wie der Mitgliederdurchschnitt im Laufen, kombiniert mit nahezu unkalkulierbarem Geschehen am Schießstand, welches hier kaum mit dem eigentlichen Leistungsvermögen (Trefferquote) zu tun hat. Eher kommt noch die Schieß-Schnelligkeit zum Tragen. | Das Kollektiv ist so gut wie das schwächste Mitglied im Laufen, verrechnet mit dem Mitgliederdurchschnitt im Schießen. |
Auswirkung internen Leistungsgefälles | Im Kollektiv können Athleten verschiedenster Leistungsstärke gemeinsam antreten. Auch mit katastrophaler individueller Vorstellung kann man eine Goldmedaille holen, wenn die Kameraden die Sache entsprechend herausreißen. | Hier ist es ausgeschlossen, mit schlechter Leistung irgendwas zu erreichen. Stattdessen werden läuferische Top-Leute ausgebremst, ihr Leistungsvermögen wird schlicht gekappt (soweit es sich nicht in Führungsarbeit ummünzen läßt). |
Taktischer Spielraum | Taktik findet hauptsächlich über die Festlegung der Reihenfolge statt (nach Charakter der Mitglieder, nach vermuteter größter Unbequemlichkeit für die Gegnerschaft). Im Rennen selbst muß programmatisch die Leistung abgerufen werden; Reaktionsmöglichkeiten auf den Rennverlauf sind höchstens dem Schlußläufer gegeben, vorwiegend mittels Schnellfeuereinlagen. | Im Vorfeld kann nur überlegt werden, wer liegend und wer stehend schießt. Das Rennen ist dann durchgehend taktisch geprägt, Formation und Tempo können und müssen ständig neu zugeschnitten werden. Alle Taktik bezieht sich auf den Kampf gegen die Uhr. |
Streß am Schießstand | Die direkte Konfrontation mit den Gegnern und die Absicherung durch die Nachlader verleiten zu riskantem Schießen. | Da man insgesamt nur auf fünf Scheiben zu schießen hat, und weil die Kameraden vor Ort zuschauen und bangen, wird man zu vorsichtigem Schießen neigen. Beim damals ausgeübten Verfahren gab es noch weitere Gründe dafür (Kameraden würden bei Strafrunden noch länger warten müssen, beim Doppelschießen würde man mit Fehlschuß auch den Ko-Schützen auf die Strafrunde schicken, Kraftverbrauch durch Strafrunde würde auch dem weiteren Fortkommen des Kollektivs auf der Strecke schaden). |
Fairneß | Die Startsituation läßt sich nicht fair gestalten. Danach sind die Bedingungen als fair anzusehen. | Bei einer Disziplin mit Intervallstart ist nicht auszuschließen, daß wechselnde Witterungsbedingungen und Schnee-Eigenschaften ungerecht sein können. Der Vorteil von Zeitvergleichen für später Gestartete spielt wahrscheinlich anders als bei Einzel/Sprint keine Rolle (erstens weil die Kollektive sich aus sich heraus anspornen, zweitens weil sie viel schwerfälliger im Umschalten sind als ein Einzelner, drittens weil Spontanität hier gefährlich für den Zusammenhalt ist). |
Spannung | Gilt wegen der Anschaulichkeit des direkt gegeneinander geführten Kampfes, und in Erwartung von plötzlichen Wendungen durch die besonderen Turbulenzen am Schießstand, als Inbegriff von Spannung. Läßt bereits merklich Vorfreude aufkommen. Allerdings ereignen sich auch unspannende Rennverläufe, über die man umso enttäuschter ist. | Hält sein Maß an Spannung – bei kluger Startordnung und guter Fernsehübertragung – garantiert bis weitgehend zum Schluß, denn auch die letztgestartete Mannschaft kann ja noch die erste werden. Zudem besteht eine viermal so hohe Wahrscheinlichkeit für körperliche Einbrüche und Stürze („was wir natürlich nicht hoffen wollen“). |
Da stellt sich doch die Frage, warum verzichtet man auf so große Teile des Biathlon-Spektrums? Das Schiff hatte bereits Schlagseite, aber statt es ins Gleichgewicht zu bringen, wurde es sogar noch einseitiger belastet, und dann bis zum Exzeß nochmal mehr. Von den sportlichen Abläufen her bieten die beiden Mixed-Staffeln überhaupt nichts, was die herkömmliche Staffel nicht hätte. Es geht einzig darum, andere Ergebnisse möglicher zu machen, indem man die Verhältnisse für Nationen mit zur jeweiligen Zeit „Spitzen ohne Breite“ verbessert. Dabei kommt die herkömmliche Staffel als Kollektivdisziplin nach dem Staffelprinzip den Spitzen-ohne-Breite-Nationen eh schon entgegen, wenn auch nicht stark. Außerdem haben solche Nationen grundsätzlich sehrwohl Gewinnchancen, nämlich in den Individualdisziplinen. Wer hingegen nicht vorn mitmischen kann, das sind doch vielmehr die Nationen mit dem Zustand „Breite ohne Spitze“. Es ist nicht ersichtlich, weshalb solche Nationen kein Entgegenkommen brauchen oder es nicht verdient haben sollten. Der Mannschaftswettkampf wäre dafür genau die richtige Disziplin.
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Wie ließe sich der Mannschaftswettkampf in den Terminplan einfügen? Dazu hätte ich vorerst zwei Ideen.
Idee 1: Anders als damals würde er nicht alternativ zu den (Geschlechter-)Staffeln ausgetragen, sondern zusätzlich bei den gleichen Weltcupstationen. Dies wäre ein Anstoß, um die Staffeln zu reparieren, denn die sind wirklich chronisch kaputt (festgefahrener Podiumskreis, riesige Abstände, Disqualifikationen durch Überrundetwerden, aus Hoffnungslosigkeit verquere Anti-Reihenfolgen innerhalb der Kollektive, Großteil des Feldes ist sinnlos dabei und findet quasi nicht statt). Die großen Biathlon-Nationen würden dann wohl in beiden Disziplinen antreten und mit entsprechend erweitertem Kader anreisen. Womit zugleich auch der Mißstand angepackt wäre, daß die aus Quotengründen im IBU-Cup hängenden Athleten dieser Nationen, obwohl weltcupfähig, zu selten dort herauskommen. Nationen, die nicht in beiden Disziplinen antreten wollen oder können, oder es nach einem etwaigen Schlüssel nicht dürfen, würden sich für eine davon entscheiden. Bei mittiger Aufspaltung ergäbe das zwei Felder von je ca. 13 Teilnehmergruppen. Beides müßte aber auch mit noch kleineren Feldern funktionieren. Im Fall der Staffel wäre am Fernseher doch kein Unterschied zu 20-22 Teilnehmergruppen zu bemerken; beim Mannschaftswettkampf könnten einfach die Startintervalle etwas vergrößert werden. Tendentiell sollte die Leistungsspanne ein bißchen dichter werden als jetzt bei den Staffeln, wenn erstens die großen Nationen ihre besten Leute auf zwei Wettbewerbe verteilen, und zweitens die anderen Nationen die Wahl zwischen den Disziplinen haben. Zumindest daß die Letzten plazierungsmäßig nicht mehr so weit hinten wären, ja daß man überhaupt als Teilnehmer wahrgenommen würde, gäbe schonmal einen Motivationsschub und frischen Wind. In weiteren organisatorischen Fragen wie genaue zeitliche Anordnung auf der Weltcupstation (Fairneß bezüglich Starts bei Individualdisziplinen), Fernsehübertragungen (Gerangel mit anderen Wintersportarten), Abstimmung mit IBU-Cup/EM, sehe ich keine unlösbaren Probleme.
Idee 2: Der Mannschaftswettkampf würde nicht im Weltcup durchgeführt, sondern nur bei WM/Olympia. Von den Anforderungen her wäre das in Ordnung, schließlich wird ja eh nicht speziell auf eine Disziplin hin trainiert (was nicht heißt, daß feste Kollektive nicht durch gezieltes Training was rausholen könnten, aber das antretende Kollektiv würde ja sowieso erst zeitnah bestimmt). Falls dafür eine andere Disziplin gestrichen werden müßte, sage ich sofort die Verfolgung, die für mich keine legitime Disziplin ist. Als nächstes der Massenstart, im Weltcup sinnvoll und wichtig, bei WM/Olympia nicht. Wo ich schonmal dabei bin, auch Einzel und Sprint. Denn erstens sind mir die WM/Olympia-Ergebnisse nicht repräsentativ genug für die tatsächlichen Leistungsverhältnisse, zweitens ist die Auffächerung auf viele Individualdisziplinen bei WM/Olympia ein Unding, da sie keinerlei Spezialisierungszüge aufweisen (jeder ist überall exakt genauso gut oder schlecht, falls nicht ist es Zufall), drittens finde ich es komisch, genau die gleichen Wettbewerbe wie immer auszutragen, nur mit der Vereinbarung, daß diese nun ungewöhnlich wichtig seien. Daher sind Individual-WM/Olympia-Erfolge ohne weitere Infos über die Umstände für mich eher nichtssagend, sie bleiben mir auch nicht im Gedächtnis. Für die zusammengenommenen Individualleistungen hat die Weltcup-Gesamtwertung die höchste Aussagekraft, und somit sollte die auch das größte Prestige haben. Hingegen stelle ich bei mir und allgemein fest, daß die Staffel-Weltcup-Gesamtwertung nicht verfolgt wird, während diese Disziplin bei WM/Olympia die meistbeachtete ist. Also warum nicht Individuell und Kollektiv ein bißchen auseinanderentwickeln? Die Individualdisziplinen auf die Weltcupsaison konzentrieren, wo – anders als bei WM/Olympia – jeder erreichte Platz Würdigung findet, Entwicklungen, Formkurven und Ausfälle in den Statistiken sehr gut nachvollziehbar sind, über die Jahre hinweg. Dazu wie bisher eingestreut, aber nur als jeweils singulär betrachtete Ereignisse, Wettbewerbe in den drei Staffeldisziplinen (viel Spektakel, großes Gemeinschaftserlebnis sowohl vor Ort als auch im ganzen Land, gegebenenfalls motivationsfördernde Wirkung für die Nationalmannschaft grundsätzlich, Chancen auf Weltcupsieg für größeren Athletenkreis). Und Olympia oder zumindest die WM nur mit den dann vier Kollektivdisziplinen, am besten pro Athlet mit nur einer Startberechtigung.
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Die Bezeichnung „Mannschaftswettkampf“ ist natürlich völlig untauglich. Das Wort „Mannschaft“ benötigen wir ja auch anderweitig, mindestens für die Gesamtheit der vor Ort befindlichen Athleten einer Nation und für die Staffelkollektive. Auch die Bezeichnungen der anderen Kollektivdisziplinen sind mit der späteren Entwicklung unglücklich geworden (die „Staffel“ ist seit Einführung der Mixed-Staffel nicht mehr die einzige Staffel, die „Mixed-Staffel“ ist seit Einführung der Single-Mixed-Staffel nicht mehr die einzige Mixed-Staffel, und „Single-Mixed-Staffel“ ist ein Widerspruch in sich), so daß man die Wiederaufnahme des Mannschaftswettkampfs zum Anlaß nehmen könnte, im Deutschen alles einmal neu zu bezeichnen. Meine Vorschläge wären „Hauptstaffel“, „Große Mixedstaffel“, „Kleine Mixedstaffel“ und „Blockrennen“.