Von Jörg Allmeroth
Über die Bildschirme im National Tennis Center flimmerten auch am Freitag noch immer und immer wieder die dramatischen Szenen. Die Aufnahmen, die das „kleine Tennis-Erdbeben von Melbourne“ (The Age) illustrieren sollten: Rafael Nadal war da noch einmal zu sehen, der am Boden zerstörte mallorquinische Matador, der kurz vor seinem historischen „Rafa-Slam“ den Knockout-Schlag vom eigenen Körper erhalten hatte. Und natürlich auch Roger Federer gab es zu bestaunen, den apathisch ins Leere starrenden Maestro, der bei seiner Drei-Satz-Abfuhr gegen Novak Djokovic wie einer gewirkt hatte, dessen Machtaura sich wie in einem bösen Zauber verflüchtigt hatte. „So konsterniert hat man die beiden schon lange, lange nicht mehr gesehen“, befand Amerikas Davis-Cup-Kapitän Jim Courier, der in Melbourne wie gewohnt für den lokalen „Channel Seven“ als Chefkommentator im Einsatz ist.
Nadal wieder mal gesundheitlich nicht auf der Höhe, Federer ohne Nerven und Mumm in den matchentscheidenden Situationen – war es ein Beweis dafür, dass nun im Jahr 2011 eine Veränderung der Hackordnung im Herrentennis bevorstand? „Noch sind die beiden die Topleute“, sagte Australiens Tennisidol Pat Rafter, „aber eins ist auch klar: Der Rest der Meute rückt immer näher heran. Und sieht seine Chancen, auch bei den Grand Slams gegen die Nummer 1 und Nummer 2 zu siegen.“ Djokovic, der Triumphator der kühlen Halbfinal-Nacht des Donnerstag, stand dem Verfolgertrupp als couragiertes Vorbild vor Augen: Bei den letztjährigen US Open wehrte er im Halbfinale zwei Matchbälle gegen den fünfmaligen New York-Champion Federer ab und zog selbst ins Endspiel ein. In Melbourne nun war gar nichts mehr Roger für Federer in einer Partie, die Djokovic so souverän diktierte wie früher der Maestro selbst – alle Big Points machte der Herausforderer aus Belgrad, alle entscheidenden Fehler Federer. „Ich habe Jahre gebraucht, um den ganz Großen auch bei den Grand Slams die Stirn bieten zu können“, sagt Djokovic, „das gewonnene Davis-Cup-Finale Anfang Dezember gab mir noch einmal einen kraftvollen Schub.“
Ein streitlustiger König
Federer, mit seinen 29 Jahren immerhin fünf Jahre älter als Nadal, wirkte im Fight gegen den leidenschaftlichen Djokovic auch nicht so geschmeidig, fix und ausdauerstark wie früher. „Er kam ab Mitte des Spiels oft ein, zwei Schritte zu spät“, notierte Rafter, „zusetzen konnte er da nichts mehr.“ Djokovics Trainer Marian Vajda, ein alter Fahrensmann der Tour aus der Slowakei, sprach später davon, „dass viele Spieler mit deutlich mehr Selbstbewußtsein gegen Federer bei den Grand Slams ins Match gehen“: „Man spürt schon, dass er über drei Gewinnsätze verwundbarer ist.“ Selten jedenfalls hatte man Federer so dauerhaft so chancenlos gesehen wie gegen Djokovic an diesem Januarabend in Melbourne, und selten auch so streitlustig in einer Stresssituation: Erst lamentierte der Eidgenosse über angebliches Coaching aus der Djokovic-Loge, später monierte er die überlangen Vorbereitungen des Serben vor dem Aufschlag - das nervtötende Balltippen, das einen in sich ruhenden Fed-Express aber üblicherweise völlig kalt lässt. Später watschte er all die grantig ab, die eine neue Tennis-Weltordnung am Horizont zu entdecken glaubten: „Das Thema kommt verdammt schnell auf den Tisch“, so Federer, „erstaunlich, dass man dabei auch die drei Grand Slam-Titel übersieht, die Rafael Nadal noch hält.“
Der Druck für Nadal ist enorm
Federer allerdings ist nun erstmals seit 2003 ohne einen einzigen Grand Slam-Titel unterwegs auf Reisen, ein „König ohne Reich“, wie die „Herald Sun“ spitz feststellte. Und rosarot sieht es auch für Nadal nicht aus, der zwar weiter mit gemessenem Abstand die Nummer eins in der Hierarchie bleibt. Der aber nach der jüngsten Verletzungsmalaise nicht gerade beflügelt an die gewaltige Herausforderung geht, in den nächsten Monaten riesige Punktbestände verteidigen zu müssen. „Bei Nadal können nach der Riesensaison 2010 nun durchaus Schwierigkeiten auftauchen. Der Druck, all diese Titelerfolge verteidigen zu müssen, ist enorm“, sagte Patrick McEnroe, der langjährige Chef der amerikanischen Tennis-Nationalmannschaft.
Djokovic, Murray, der Schwede Söderling, der Tscheche Tomas Berdych haben sich in langer, beschwerlicher Geduldsarbeit an die beiden etablierten Machthaber herangespielt – sie sind nicht immer, aber doch mehr als nur sporadisch auf Augenhöhe mit Nadal und Federer. Bisher konnte das Führungsduo stets auf die eigene, zupackende Attitüde bei den Grand Slams vertrauen, auf die Erfahrung und die richtigen Insitinkte bei den Big Points. Doch bei Federer hatte sich das übliche Plus in Melbourne ins Gegenteil verkehrt, gegen Djokovic hielt er lange gut mit, bis es in die Entscheidung ging. Dann fiel er eine Stufe zurück. Querkopf Pat Cash, der australische Wimbledonsieger des Jahres 1987, gab in einer Internet-Kurzbotschaft dazu folgenden, etwas eigenwilligen Kommentar: „Vielleicht hat sich Roger zu sehr an der eigenen Fanpost berauscht.“ Sprich: Nicht gemerkt, wie stark er wirklich ist. Und wie stark die anderen sind.
quelle: tennisnet.com