Der Lyrik-Thread


Gast1512

Nachwuchsspieler
Beiträge
8.729
Punkte
0
Nein, bevor ich von den Forumswürsten hier wieder Spott und Hohn ernte, lass ich das sein. Können uns aber gerne per PN austauschen, wenn du Lust hast.
 

Emperor

F1-Tippspiel-Champion 2019
Beiträge
1.879
Punkte
113
Ort
Dortmund
Ganymed, von Johann Wolfgang Goethe


Wie im Morgenrot
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne
Sich an mein Herz drängt
Deiner ewigen Wärme
Heilig Gefühl,
Unendliche Schöne!

Dass ich dich fassen möcht'
In diesen Arm!

Ach, an deinem Busen
Lieg' ich, schmachte,
Und deine Blumen, dein Gras
Drängen sich an mein Herz.
Du kühlst den brennenden
Durst meines Busens,
Lieblicher Morgenwind!
Ruft drein die Nachtigall
Liebend nach mir aus dem Nebeltal.

Ich komme! Ich komme!
Wohin? Ach, wohin?

Hinauf, hinauf strebt's.
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnenden Liebe.
Mir, mir!

In eurem Schoße
Aufwärts,
Umfangend umfangen!
Aufwärts
An deinen Busen,
Allliebender Vater!
 

Nachbars_Lumpi

Nachwuchsspieler
Beiträge
5.997
Punkte
0
Mitternacht war’s, schwarz und schaurig,
lustlos saß ich träg und traurig,
stöbernd in uralten Büchern
und die Augen wurden schwer.

Plötzlich hörte ich ein Scharren,
ein Klopfen und ein Knarren,
deutlich von der Türe her.

„Ein Besucher?“, dacht ich.
„Jetzt noch! Wo kommt der denn heute her?"
Ja, das dacht ich, und nicht mehr.

Ach, wie kalt fühl ich noch heute,
die Dezembernacht, ihr Leute.
Im Kamin die Flammenmeute,
warf Gespenster ringsumher.

Nutzlos der Versuch, vor morgen,
von den Büchern Trost zu borgen,
für die größte meiner Sorgen, ob Lenore ein Engel wär.

O, Lenore die ich verloren wiederum ein Engel wär,
jetzt im Himmel, hier nicht mehr.

Das Wispern von Gestalten in den Purpurvorhangfalten,
weckte Angst mir vor Gewalten,
die ich nie gespürt vorher.

Herz, hör auf, wie wild zu schlagen,
lass es dir noch einmal sagen.
Ein Besuch ist für mich draußen nicht zu sehen,
ist sein Begehr, das ist alles und nicht mehr

So verschwand mein Banges Zagen
und ich konnte furchtlos sagen:
„Werter Herr, verehrte Dame, bitte gleich, und bitte sehr.
Und verzeiht mir, denn ich machte grad ein, ein Schläfchen.
Und so sachte, dass ich wohl nicht gleich erwachte, war Ihr Klopfen da vorher.“

Mit diesen Worten riss ich weit die Tür auf.
Alles leer, und gar nichts mehr.

Zu die Tür, als ich erkannte,
dass mein Herz wie Feuer brannte,
hört ich wieder dieses Pochen,
etwas lauter als vorher.

„Schluss jetzt mit den Eskapaden! Richtig, ja!
Der Fensterladen nahm womöglich heute Schaden,
dann kommt da das Pochen her.“

Auf stieß ich das hohe Fenster
und wie rauschende Gespenster,
flatterte ein stolzer Rabe,
just aus alter Sage, her.

Keinen Gruß, keine Verbeugung,
nicht die kleinste Gunstbezeugung.
Gleich mit hoheitsvoller Miene,
flog hinauf zur Türe her.

Setzt sich auf die Pallas-Büste,
die dort thront im Marmor schwer,
flog und saß da, und nicht mehr.

„Hehe, etwas Pflege, alter Knabe fehlt zu deinem Wohlgehabe.
Aber sag mir grimmer Rabe, Wanderer aus Plutos Sphäre,
sag mir, welchen edlen schwarzen Namen gab man dir Plutos Sphäre?“

Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

Und dann schwebten durch die Lüfte plötzlich wundersame Düfte.
Und Seraphims Schritte klangen aus des Raumes Tiefe her.

„Himmel!“, rief ich.
„Sieh, Gott sendet einen Engel her, und spendet dir Vergessen, und so endet die Erinnerung an Lenore.
Trink, o trink das freundliche Vergessen, setz nicht länger dich zur Wehr!“

Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

„Dies war dein Abschiedszeichen,
Teufelsvogel ohne Gleichen.
Lass dich nicht mehr bei mir sehen,
kehr zurück in Plutos Sphäre.

Pack dich, hörst du, du sollst fliegen
und lass keine Feder liegen!
Als Beweisstück der Intrigen
pack dich ohne Wiederkehr.

Friss nicht weiter mir am Herzen und pack dich ohne Wiederkehr! "

Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

„Friss nicht weiter mir am Herzen, und pack dich ohne Wiederkehr!“

Sprach der Rabe: „Nimmermehr!“

Und der Rabe, er fliegt nimmer,
sitzt noch immer, sitzt noch immer
auf der bleichen Pallas-Büste am Türsims wie vorher.

In dem bösen Blick verborgen,
eines Dämons Träume toben
und das Licht wirft mit dem groben Raben, schwarzen Schatten her.

Es erhebt sich aus dem Schatten, aus des Rabens Schatten her,

meine Seele nimmermehr!
 
Zuletzt bearbeitet:

twinpeaks

Nachwuchsspieler
Beiträge
8.872
Punkte
0
Ort
New York Café
Passend zum Jahreswechsel:


Erinnerung

Und du wartest, erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.

Es dämmern im Bücherständer
die Bände in Gold und Braun;
und du denkst an durchfahrene Länder,
an Bilder, an die Gewänder
wiederverlorener Fraun.

Und da weißt du auf einmal: das war es.
Du erhebst dich, und vor dir steht
eines vergangenen Jahres
Angst und Gestalt und Gebet.

Rainer Maria Rilke, 1875-1926
 
Oben