Diskussion über die Berechnung der Windpunkte


Benjamin

Zahlenfreund
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Von der Anlauflänge hängt es mit ziemlicher Sicherheit ab. Auf vielen Schanzen (Ausnahmen gibt es natürlich) ist ja die Flugkurve heutzutage nicht mehr all zu hoch, die Springer segeln also zumindest während eines Teils ihres Flugs einigermaßen parallel zum Hang entlang. Und falls die Flugkurve zu flach ist, bleibt der Springer irgendwo am Vorbau hängen und kommt gar nicht erst ins Fliegen.
Wenn ein Springer bei einer bestimmten Anlauflänge (ich habe dafür schon mal den Begriff "Kotzgrenze" gehört) gerade ganz knapp am Vorbau hängen bleibt, kann ein bisschen Aufwind dann bewirken, dass er doch schön ins Fliegen kommt, so dass er einige Meter hinzugewinnt.
Ist der Ablauf aber länger, so dass er auch ohne Aufwind ins Fliegen kommt und zumindest mal den K-Punkt erreicht, dürfte der zusätzliche Weitengewinn durch Aufwind nicht mehr so groß sein.

Ich fürchte aber, dass es kaum möglich sein dürfte, diese Abhängigkeit des Weitengewinns durch Aufwind von der Anlauflänge sinnvoll in einer Formel unterzubringen - und zwar aus zwei Gründen:
Zum einen liegt diese "Kotzgrenze" bei unterschiedlich starken Springern bei unterschiedlichen Luken, d.h. es kann durchaus eine Anlauflänge geben, bei der der eine Springer gerade am Vorbau hängen bleibt und durch etwas Aufwind gleich 10 m gewinnt und bei der ein besserer Springer aber auch ohne Aufwind ins Fliegen kommt und dann mit Aufwind nur noch 5 m gewinnt.
Und zum anderen hängt dieser Weitengewinn durch Aufwind ja strenggenommen nicht von der Anlauflänge sondern von der Anfahrtsgeschwindigkeit ab. Und die wiederum kann bei unterschiedlichen Witterungsbedingungen an unterschiedlichen Tagen auch mal unterschiedlich groß sein - trotz gleicher Lukenwahl. Das Problem ist bei den modernen Eisspuren zwar nicht mehr so groß; aber gewisse Unterschiede dürfte es schon noch geben.

Inwiefern der Weitenunterschied zwischen +1 und -1 Windpunkten größer ist als der zwischen +2 und +4 Windpunkten weiß ich nicht; mir persönlich sind in der Hinsicht keine Besonderheiten aufgefallen; du bist aber - glaube ich - auch nicht der erste, der zu dieser Annahme kommt.

Als die Windregel zum ersten Mal angwendet wurde, hat man für den Weitengewinn Δw folgende Formel aufgestellt (Quelle: FIS-Fact-Sheet von 2009):
Δw = TWG x (HS – 36)/20
Dabei ist TWG die tangentiale Windgeschwindigkeit (Aufwind) und HS der Hillsize. Die ursprüngliche Formel schien also tatsächlich nur vom Hillsize abzuhängen; ich gehe davon aus, dass hier sowohl empirische Daten als auch Rechenmodelle eine Rolle gespielt haben - aber das weiß ich nicht sicher.
Für empirische Daten spricht auch, dass die Formel im Laufe der Zeit verfeinert worden ist; so ist ja die Gutschrift bei 1 m/s Rückenwind heute immer höher als der Abzug bei 1 m/s Aufwind. Und @Martin_D hat ja auch schon festgestellt, dass in Oberstdorf die Gutschriften höher sind als in Garmisch, obwohl Garnisch den höheren Hillsize hat.
 

PC_principal

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Ja natürlich spielt der Springer selbst auch eine gewaltige Rolle. Vor allem wenn sich Fehler in die Sprünge einschleichen, kann der Wind einen gewaltigen Unterschied machen.

Die Beobachtung von Martin_D ist natürlich auch interessant. Es ist zumindest schön zu sehen, dass offenbar weiter an dem Windpunktesystem gearbeitet ist.
Auch wenn ich absolut froh drum bin dass es das gibt.
 

moiag

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Miran Tepes hat bei VST Übertragung auf slowenischen TV ein Interview über Windpunkte gegeben, und er gesagt, dass nach theoretischen Rechnungen und empirischen Beobachtungen die jetzigen Windpunkte (plus und minus Werten) nur ungefähr 70 % davon, was faire wäre – und dass das wohlbekannt ist, aber man hat in diesem Moment kein Mut das zu ändern.
 

Masmiseim

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Allerdings ist das auch nachvollziehbar - sonst ist für den Zuschauer ja die Freude über weite Sprünge komplett im Eimer.
Dann springt der eine auf 130m, der andere auf 115 und gewinnt....

Deswegen finde ich, dass man nicht zu sehr daran herumschrauben sollte. Das Wort Freiluftsport darf hier nicht gänzlich unter den Tisch fallen.
 

Martin_D

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Miran Tepes hat bei VST Übertragung auf slowenischen TV ein Interview über Windpunkte gegeben, und er gesagt, dass nach theoretischen Rechnungen und empirischen Beobachtungen die jetzigen Windpunkte (plus und minus Werten) nur ungefähr 70 % davon, was faire wäre – und dass das wohlbekannt ist, aber man hat in diesem Moment kein Mut das zu ändern.

Wobei das nach meinen Beobachtungen auch etwas von der Schanze abhängt. In Zakopane beispielsweise hatte ich mal den Eindruck, dass die Windpunkte den Nachteil sogar überkompensieren. Wobei ich nicht beurteilen kann, ob das wirklich charakteristisch für die Schanze oder eher an den speziellen Bedingungen an diesem Tag lag.
 

moiag

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Es scheint mir klar, dass Springer viel lieber solche Bedingungen haben, dass sie minus Windpunkte kriegen - allein das auch ein Beweis ist, dass negative Punkte nicht genug negativ sind und positive Windpunkte nicht genug positive sind.

Die Zuschauer haben uns schon ziemlich gut auf Windpunkte angewöhnt, und würden uns bestimmt auch auf 30% höheren Werten anpassen (eigentlich 43%, weil 1/0,7=1,428...). Wir wollen doch eine faire Berechnung, so fair wie nur möglich, möchte ich glauben :)
 

Vorticity

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Neben den Windpunkten sollte man mMn auch das Wertungssystem der Punktrichter ändern/revolutionieren. Ich weiß nicht, ob es dazu einen passenderen Thread gibt. Habe mir dazu mal Gedanken gemacht und wollte die mit euch teilen:

Ich finde im Skispringen sollte es nicht darum gehen, wer den stilistisch schönsten Sprung macht, sondern den weitesten. Wir sind ja nicht im Wasserspringen. Es kommt dadurch eine subjektive Bewertung rein, die es mMn nicht braucht. Es gibt kaum mehr Springer, die wirklich stilistisch abfallen. Springer aus kleinen Nationen haben z.T. auch schöne Systeme und liegen ruhig in der Luft, kriegen aber deutliche Abzüge in den Noten, weil eben doch irgendwo die Weite mit reinspielt. Bei miserablen Bedingungen wie in Seefeld, haben Springer wie Kobayashi oder Geiger sicher keine Graupen gemacht, aber konnten wegen der Spur auch nichts mehr anrichten. Beide bekamen für ihre Sprünge dann schon 3,5 Punkte weniger von den Richtern (was in dem Fall dann bei beiden paar Plätze ausgemacht hat). Insgesamt werden Springer nochmal doppelt benachteiligt für schlechte Bedingungen. Hier schließt sich dann auch der Kreis wieder mit den Windpunkten, denn von den Pluspunkten kann man dann wieder im Schnitt 3-4 Punkte wegen den Punktrichtern abziehen.

Was wirklich objektiv bewertet werden kann, ist eigentlich nur die Landung. Wer stürzt oder keinen Telemark setzt, kann meistens direkt erkannt werden. Hier kann es mMn Punktabzüge geben, wenn die Landung nicht passt. Dazu sollten aber auch Wiederholungen für Sprungrichter eingeblendet werden. Zu oft gibt es da starke Schwankungen, wenn es unklar ist, ob ein Springer wirklich im Schnee war. Also würde ich eben nur noch rechnen: Weitenpunkte +- Wind +- Gate - Landungspunkte. Dann wird es vielleicht keine Punkterekorde mehr geben, aber das ist verkraftbar. Man könnte ja auch statt 60 Pkt beim K-Punkt 120 geben und dann davon ausgehen. Dann wäre es nicht mehr so extrem mit Punkten unter 100.

Mich würde eure Meinung dazu interessieren.
 

Masmiseim

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Ich finde den Einwurf von Vorticity ziemlich interessant - auf der einen Seite diskutieren wir hier über ein System mit kompliziertesten Matheformeln um irgendeine Form der "Gerechtigkeit" zu erreichen und haben Gleichzeitig eine andere Komponente am Start, die vollkommen subjektiv und selten nachvollziehbar ist.
 

Benjamin

Zahlenfreund
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Am ehesten geht noch der Thread von @Schwarz-Rot-Gold Adler in die Richtung einer Reform des Punktesystems, wobei sein Gedanke da ein anderer war; die Idee war eher, gerade den nicht gesetzten Telemark bei hohen Weiten nicht übermäßig zu bestrafen.

Versuche, das Punktesystem in deinem Sinn zu reformieren, hat es tatsächlich schon mehrere gegeben. Zum einen bei der Nordischen Kombination, als man im bis 2009 durchgeführten Massenstartwettkampf gar keine Haltungsnoten mehr vergab, sondern nur einen generellen Abzug bei einem Sturz oder einem nicht gesetzten Telemark verteilte.

Und im Sommer 2002 hat man bei den Spezialspringern mal ein System ausprobiert, bei dem die Haltungsnoten zwar erhalten blieben, bei dem es aber nur für die Landung Punktabzüge gab. Was das für Auswirkungen hatte, sieht man gut an der Ergebnisliste von Hinterzarten 2002 - man beachte vor allem die Noten von Roar Ljoekelsoey auf Platz 6:


Beides hat sich allerdings nicht durchgesetzt. Ich könnte mit so einer Bewertung prinzipiell leben, glaube aber nicht, dass es viel ausmachen würde. Denn bei Springern mit ähnlicher Platzierung unterscheiden sich die Abzüge für die Flugphase doch nur marginal und sind auch nicht unbedingt subjektiv. Die großen Unterschiede zwischen verschiedenen Punktrichtern kommen eher dann zustande, wenn ein Springer so einen halben Telemark macht und der eine das dann noch als Telemark wertet, der andere aber nicht. Hier wäre es definitiv hilfreich, den Punktrichtern eine Videoaufnahme vom Landevorgang zur Verfügung zu stellen. Das Argument dagegen war - glaube ich - dass das zu lange dauern würde, was ich auch nicht ganz nachvollziehen kann.
 
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