Leichtathletik


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Da das Interesse doch einigermassen hier zu sein scheint, gibt’s von meiner Seite doch einmal ein paar Zeilen zum Aufschwung der Leichtathletik in der Schweiz. Ich packe es bewusst in den allgemeinen Leichtathletik-Thread, da das Ganze ja nur bedingt etwas direkt mit der Weltmeisterschaft zu tun hat.

Die Schweiz war nie eine richtige Leichtathletik-Nation. Man hat immer wieder vereinzelte Athleten in der Weltspitze gehabt, allen voran natürlich Werner Günthör als dreifacher Weltmeister im Kugelstossen. Aber auch andere Namen wie Anita Weyermann, André Bucher (bis vor kurzem der einzige Weltmeister aus der Schweiz nebst Günthör), Marcel Schelbert oder Viktor Röthlin haben es an die Spitze ihrer Disziplinen geschafft. Sie standen aber immer relativ einsam da, die jeweiligen Delegationen an den globalen Meisterschaften umfassten in der Regel zwischen 10 und 20 Athleten. Ab und an waren es ein paar mehr.

Den Tiefpunkt erreichte man jedoch nach der Jahrtausendwende. An der WM 2001 in Edmonton schickte man lediglich eine sechsköpfige Delegation – jedoch feierte man die Goldmedaille von André Bucher über 800 Meter. 2003 schickte man immerhin acht Athletinnen und Athleten nach Paris, 2005 in Helsinki waren es dann schon wieder neun. Leicht steigende Zahl, aber Rang 14 als Bestergebnis lockt die Schweiz wohl auch nicht wieder auf die Tartanbahn. Eine Euphorie ist alles andere als erwartbar. Klar, man konnte im neuen Jahrtausend immerhin fünf Medaillen-Gewinne feiern. Viktor Röthlin holte Gold und Silber im Marathon an den Europameisterschaften, zudem holte er Bronze an den Weltmeisterschaften. Und André Bucherer gewann nebst seiner WM-Goldmedaille noch einmal Silber an den Europameisterschaften.

Den Wendepunkt dieses Abstiegs lässt sich sogar relativ deutlich datieren: der 01. Mai 2010. Dies ist der Tag, an welchem Zürich den Zuschlag für die Ausrichtung der Leichtathletik-Europameisterschaften 2014 erhalten hat. Und die unglaubliche Entwicklung seither lässt sich kaum in Worte fassen. Betrachtet man alleine die Europameisterschaften: 49 Medaillen hat die Schweiz in der Geschichte insgesamt gewonnen. Seit der Heim-EM gewann man deren 25 davon. Und 15 davon waren an den letzten beiden Europameisterschaften in München und in Rom. Die Grundsteine, welche mit dem begonnenen Aufschwung vor 15 Jahren gelegt wurden, tragen mittlerweile richtig Früchte. Und man muss wohl sagen, dass die Tendenz momentan weiterhin steigend sein dürfte, denn auch der Unterbau ist weiterhin überzeugend unterwegs.

Massgeblich daran beteiligt ist auch Christoph Seiler, seit zehn Jahren Präsident von Swiss Athletics. Dieser setzte sich zum Ziel, den Schwung der Europameisterschaft aus dem vorherigen Jahr mitzunehmen. Und was ihm ebenfalls ein wichtiges Anliegen ist: die Leichtathletik auch in der nationalen Medienlandschaft fest zu verankern und grundsätzlich zu attraktivieren – auch wenn es dafür unkonventionelle Massnahmen benötigt. Und wahrscheinlich das Wichtigste: der Verband konnte sein Budget unter seiner Führung verdoppeln. Dies ermöglicht es vor allem auch, die diversen Nachwuchs-Wettbewerbe durchzuführen.

Vor allem durch die drei grossen Nachwuchs-Bewerbe gelingt es Swiss Athletics momentan, viele Kinder und junge Jugendliche zur Leichtathletik zu bringen. Der grösste davon ist sicherlich der UBS Kids Cup, welcher die Bewegungsformen rennen (60 Meter), springen (Weitsprung) und werfen (Ballwurf) vereint. Über die Kantonalfinals kann man sich für das nationale Finale qualifizieren, welches jeweils zwei Tage nach Weltklasse Zürich ebenfalls im Letzigrund stattfinden. Dazu gibt es unter anderem noch den Visana Sprint, wo sich – wie der Name sagt – die grössten Sprint-Talente untereinander messen, sowie Mille Gruyère, welches sich eher auf den Mittelstrecken-Bereich fokussiert. Je nach Altersklasse startet man dort über 600 oder 1000 Meter.
Die Kader werden im Nachwuchs bewusst relativ gross gehalten. Swiss Starters Future steht Athletinnen und Athleten ab dem 17. Lebensjahr offen, welchen das Potenzial zugesprochen wird, in den kommenden Jahren an einem Nachwuchs-Grossanlass teilzunehmen. Die Kaderzugehörigkeit bringt durchaus einiges an Sicherheit, da dieser Status für mindestens zwei Jahre besteht.
Der elitäre Kreis der Nachwuchsförderung ist dann die Aufnahme in den «World Class Potentials»-Kader. Diese Unterstützung erfolgt jeweils langfristig und beträgt mindestens vier Jahre, jedoch maximal bis zum 26. Lebensjahr. Klar, hier kann man auch mal ins Klo greifen und ein Kader-Platz ist für vier Jahre belegt, jedoch fährt man mit diesem Weg durchaus gut.

Der Aufschwung ist sicherlich vor allem auf eine gezielte Nachwuchsförderung als Folge der gesteigerten Aufmerksamkeit durch die Europameisterschaft im eigenen Land zurückzuführen. Man hatte damals das Glück, dass man auf einzelne Zugpferde setzen konnte, welche den jungen Sportlerinnen und Sportlern als Vorbild dienten. Dazu gehörten sicherlich Mujinga Kambundji, Kariem Hussein, Lisa Urech (bis zu ihrem verletzungsbedingten Karriereende), aber auch Fabienne Schlumpf, Selina Büchel oder Nicole Büchler. Gepaart mit den optimierten Strukturen, welche bereits auf der Ebene der Trainer in den einzelnen Regionen beginnt, ist das Wachstum wohl auch nachhaltig und nicht nur auf einen kurzfristigen Peak ausgelegt.

Und wo steht man heute? Gefühlt an jeder Nachwuchsmeisterschaft erreicht man eine neue Rekord-Delegation, sei es auf kontinentaler oder globaler Bühne. Dieses Bild zeigt sich auch bei den Elite-Meisterschaften, auch wenn man in Tokio mit einer etwas kleineren Delegation am Start ist (eine Staffel weniger). Und was fast erfreulicher ist: man rechnet sich bei einer immer wachsenden Zahl an Athletinnen und Athleten eine realistische Chance auf eine Medaille aus. Das Team wächst also nicht nur in der Breite, sondern auch in der Spitze.

Diese Entwicklung zeigt sich meines Erachtens auch in der Übersicht der Schweizer Rekorde. Ein Grossteil der Rekorde wurde seit der Heim-EM 2014 gebrochen. Es sind die folgenden, welche noch länger bestand haben:

Männer: 400 Meter (Matthias Rusterholz, 44.99, 1999), 800 Meter (André Bucher, 1:42.55, 2001), 1500 Meter (Pierre Délèze, 3:31.75, 1985), 400 Meter Hürden (Marcel Schelbert, 48.13, 1999), 3000 Meter Steeple (Christian Belz, 8:22.24, 2001), Dreisprung (Alexander Martinez, 17.13, 2006), Kugel (Werner Günthör, 22.75, 1988), Diskus (Christian Erb, 64.04, 1988), Hammer (Patric Suter, 80.51, 2003)
Frauen: 1500 Meter (Anita Weyermann, 3:58.20, 1998), 5000 Meter (Anita Weyermann, 14:59.28, 1996), 10'000 Meter (Daria Nauer, 31:35.96, 1996), Kugel (Ursula Stäheli, 18.02, 1988), Diskus (Rita Meyer, 60.60, 1976)


Klar, da sind einige Bestleistungen, welche von damaligen Weltklasse-Athleten aufgestellt wurden und wohl auch auf längere Sicht noch Bestand haben werden. Für einige der anderen Rekorde gibt es aber auch jetzt schon valable Kandidatinnen und Kandidaten, um einen der Alt-Rekorde auszulöschen. Mein persönlicher Tipp: als Nächstes fällt der Kugel-Rekord von 1988, welcher sich Miryam Mazenauer holen wird.
Die Übersicht zeigt auch, dass die weibliche Seite des Sports in der Schweiz aktuell noch etwas weiter ist, es besteht auch etwas ein Ungleichgewicht in den Delegationen. In den Nachwuchs-Kadern entwickelt sich dies langsam immer mehr in Richtung Gleichgewicht, jedoch ist auch dort noch ein Athletinnen-Überschuss.
Und was ebenfalls deutlich wird: die Field-Disziplinen sind noch immer etwas das Sorgenkind. Auf der Bahn ist man durch das Band mit hoffnungsvollen Athletinnen und Athleten unterwegs. Inzwischen ist man ja soweit, dass für einzelne Disziplinen Trials durchführen muss, um zu definieren, wer an die Grossanlässe reisen darf. In den technischen Disziplinen ist man zwar auch auf dem aufsteigenden Ast, doch dieser Baum wurde noch nicht so lange gepflanzt. Vereinzelt hat man ja auch in den Wurf-Disziplinen mittlerweile Leute an den Grossanlässen.

Und um die Zukunft muss man sich auch keine Sorgen machen. Es stehen bereits jetzt wieder einige Athletinnen und Athleten in der Pipeline, welche in ihrer Altersklasse zur Weltspitze (oder zumindest zur kontinentalen Spitze) gehören. Ein bisschen Namedropping: Xenia Buri, Jil Sanchez, Sereina Liem, Mina Hirsbrunner, Lucia Acklin, Eric Huanca Quispe, Nino Camiu, Ashik Begum, Akira Eghagha, Andrin Huber. Das ist alles aber Zukunftsmusik: ich beobachte die Entwicklung des Nachwuchses unglaublich gerne, geniesse aber auch sehr gerne das aktuelle Geschehen der Elite. Glücklicherweise sind diese Leute ja grösstenteils alle noch unglaublich jung und Swiss Athletics wird noch einige Zeit Freude mit diesen Athletinnen und Athleten haben.
 
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