Spiritbox - Tsunami Sea
Als größter Spiritbox-Stan des Forums muss ich natürlich auch hier noch ein paar Zeilen zum neuen Album dalassen. Achtung, es folgt eine Huldigung.
Dreieinhalb Jahre hat es gedauert, einen Nachfolger für das zuerst mit Spannung erwartete und später gefeierte Debütalbum "Eternal Blue" unters Volk zu bringen. Untätig war man während der Zeit aber natürlich nicht, stattdessen hat man den Druck des zweiten Albums umschifft, indem man mit "Rotoscope" (2022) und "The Fear of Fear" (2023) zwei EPs veröffentlicht hat. Letztere brachte der Band für "
Jaded" und "
Cellar Door" gleich zwei Grammy-Nominierungen ein, stellte als Gesamtwerk mit einem roten Faden aber auch eine Weiterentwicklung zu "Eternal Blue" dar, das sich phasenweise mehr wie eine Single-Kollektion anfühlte als ein Werk aus einem Guss.
Für das neue Album hat das Ehepaar LaPlante/Stringer die Besinnung auf die Anfänge der Band ausgerufen. Das geht von der schlichten Schwarz/Weiß-Ästhetik, die man selbst für die neuen Musikvideos verwendet hat, über den Grundsound, der an vielen Stellen an die ersten beiden EPs erinnert, bis hin zu den Lyrics. Es geht um ihre Heimat Vancouver Island, es geht um Isolation und Melancholie - und es geht vor allem ums stürmische Meer, welches sich über das ganze Album in den Lyrics findet und gleichzeitig das Bindeglied zwischen den Songs gibt.
"
Fata Morgana" eröffnet fulminant. Opener konnten Spiritbox schon immer (hallo "
Sun Killer"), und dieser hier legt die Latte noch weiter nach oben. Ein schweres Intro-Riff, ein Gojira-Scrape - und dann bellt Courtney LaPlante die Marschrichtung für das Album in den Himmel:
"Sorrow follows me / I feel it in my inhale when I breathe / I can feel it in the exhale, underneath / Cascading over everyone and everything". Dann ein Refrain, der auch von Deftones oder Loathe stammen könnte, gepaart mit der Ambience, die gerade das Frühwerk der Band ausgezeichnet hat. Großartig. Das energisch daraus wachsende "
Black Rainbow" unterstreicht das Selbstvertrauen, mit dem die Band mittlerweile agiert: experimentiert hat man auch früher schon, aber 2025 drückt man das Pedal, oder in dem Fall den Vocoder, gleich ganz durch. Der Track ist vom Film "Beyond the Black Rainbow" von Panos Cosmatos, der wie LaPlante und Stringer von Vancouver Island kommt, inspiriert, und ist mit dem Vocoder-Einsatz, dem creepy Hauptriff und dem brachialen Breakdown einer der spannendsten auf dem Album. "
Dissolve, displace, rejoice, repeat" ... es ist ein bockstarker Start in das Album, ehe es sehr abrupt in die großartige Vorabsingle "
Perfect Soul" übergeht. Es bleibt nicht der einzige harte Übergang - thematisch passend wird es über das ganze Album immer wieder ein Wellengang zwischen hart und melodisch.
Das melodische Doppel "Perfect Soul" (eine der besten Singles, die man je veröffentlicht hat) und "Keep Sweet" stellt die vielleicht größte Neuerung gegenüber "Eternal Blue" ins Rampenlicht: Bassist Josh Gilbert, dessen großartiger Background-Gesang im Gegensatz zur "The Fear of Fear"-EP jetzt auch prominenter in Szene gesetzt wird. "
Keep Sweet" ist im Prinzip "The Void" 2.0, wobei mir dieser Song hier aufgrund des starken Refrains (und den Gilbert-Vocals) besser gefällt. Mit der ersten Vorabsingle "
Soft Spine" geht es brachial weiter, auf der LaPlante mit so manchen Personen in der Musikindustrie abrechnet und Zeilen wie
"your god will sort you when you die" keift. Auch im Albumkontext großartig. Es folgt der Titeltrack, welcher natürlich Vergleiche mit "Eternal Blue" einlädt - wobei mir "
Tsunami Sea" tatsächlich noch ein ganzes Stück besser gefällt, auch wegen des interessanten Refrains und der zugrundeliegenden Melancholie. In dieser Stimmung geht es auch mit dem längsten Song des Albums weiter: "
A Haven With Two Faces", wie LaPlante Vancouver Island beschreibt. Der Song klingt, als hätte man "
Trust Fall" (bis heute übrigens mein absoluter Spiritbox-Lieblingstrack) mit "
The Mara Effect" gemischt und ist somit ein echtes Geschenk für Fans der frühen Werke. Was LaPlante bei ~3:20 macht, ist auch großes Kino. Gänsehaut.
Das letzte Drittel von "Tsunami Sea" ist musikalisch dann wohl am spannendsten. Die brachiale Vorabsingle "
No Loss, No Love" geht direkt auf die 12, baut aber auch noch kurze Drum&Bass-Momente ein, ehe der finale Breakdown alles niederwalzt. Vielleicht die härteste Nummer, die man bisher aufgenommen hat ... und da ists dann gar nicht überraschend, dass mit der Elektropop-Nummer "
Crystal Roses", die auch von Poppy kommen könnte, direkt der nächste Schwenk kommt. Sie wirkt im Albumkontext gar nicht so deplatziert, wie man das bei der Veröffentlichung wenige Tage vorm Albumrelease (welche die Band übrigens ziemlich angepisst hat, weil das Label das nicht mit der Band abgesprochen hatte) denken konnte, und ist für mich auch nicht der Auto-Skip wie "We Live in a Strange World" auf dem Vorgänger - aber es bleibt für mich relativ klar der schwächste Song auf dem Album.
Umso stärker geht es mit "
Ride the Wave" auf die Zielgerade. Auch dieser Track ein sehr ungewohnte Nummer für Spiritbox, auf der Mike Stringer eine "28 Days Later"-Atmosphäre erzeugen wollte. Spannender Aufbau, ein unverschämt eingängiger Refrain - und der beste Breakdown des Albums. Auf dem Closer "
Deep End", der trotz der Melancholie mit einer enormen Portion Trost um die Ecke kommt, darf Josh Gilbert noch einmal glänzen. Der Song ist seinem Vorgänger Bill Crook gewidmet, der von 2018 bis 2022 Mitglied der Band war und im Vorjahr leider verstorben ist.
Ich hab ein paar Durchläufe gebraucht (den ersten Durchlauf fand ich sogar recht enttäuschend), aber was soll ich sagen? Ich bin begeistert. Es ist nicht zwingend das Album, das ich angesichts der Vorabsingles erwartet habe, aber die melancholische Grundstimmung trifft auch wieder meinen Nerv. So sehr man auch den Bogen zu den Frühwerken spannt (was ich großartig finde), so sehr hat man sich in den letzten Jahren auch weiterentwickelt - und so ist "Tsunami Sea" auch reifer, mutiger, größer und spannender als "Eternal Blue" geworden. Nicht alles fetzt zu 100 Prozent (hallo "Crystal Roses"), aber als Gesamtwerk finde ich es sehr gelungen und die Band untermauert eindrucksvoll, warum sie in Höllentempo in Richtung Headliner-Status unterwegs ist. Vielleicht klappts dieses Jahr dann auch mit dem wohlverdienten Grammy.
TL;DR - 12/10, would recommend.