In Arztpraxen lese ich meist den Stern. Der ist allerdings häufig hart umkämpft. Und zudem in den meisten Fällen bereits in den Händen eines ehemaligen Stabswachtmeisters der Wehrmacht, der einen schon beim Betreten des Wartezimmers höflich ignoriert hat.
"Entschuldigen Sie, junger Herr, Sie halten den Stern in den Händen, scheinen aber nicht darin zu lesen. Könnte ich wohl mal nen Blick reinwerfen?"
...
Keine Reaktion.
Verkalkter Schwachkopf.
...
Ok, vielleicht hatte er ja gedacht, ich würde in diesem ansonsten menschenleeren Wartezimmer jemand anderen meinen, da ich ihn junger Herr nannte. Andererseits hatte er den Borsalino so tief im Gesicht zu hängen, dass er ebenfalls schlafen hätte können. Ich überlegte kurz, wie weiter zu verfahren war.
...
"Ähh, Entschuldigen Sie, Halloooo..." Ist der Tot? "Öhh, 'tschuldigung, lesen Sie den Stern noch, könnte ich ihn vielleicht mal haben?"
Ich griff nach dem Stern.
Er wendete sich mir zu. Ich blickte in das lebensbejahende Lächeln eines Gunther von Hagens.
"Was ist denn das für ein Radau?! Was machen sie denn für einen Lärm?! Das verbitte ich mir!"
Ich trug Unbekümmertheit zur Schau. Eigentlich könnte man im hohen Alter doch alles etwas lockerer nehmen, das Leben ist gelebt und groß aufregen sollte einen doch kaum noch etwas können. Gunther mit dem Borsalino sah das wohl etwas anders.
"Ich wollte lediglich einen Blick in den Stern werfen."
"Das ist meiner!"
"Der ist vom Lesezirkel..."
"Das ist meiner!" Gunther war uneinsichtig. "Für solche Leute wie Sie, habe ich im Krieg nicht nächte lang an der Flak Wache gehalten!"
Genau darauf hatte ich gewartet. Nichts wäre mir in dieser Situation lieber gewesen, als mit einem Kriegsveteranen einen polit-historischen Diskurs zu führen. Ich beschloss jedoch weitaus strategischer vorzugehen.
Noch immer fasste meine Linke den Stern, den der alte Mann nicht freigeben wollte. Ich nahm auch die andere Hand zur Hilfe und aufgrund unser Beider zerren, entledigte sich der Stern seines Lesezirkel-Deckblattes.
Mein Ziel vor Augen zog ich nun etwas heftiger und versuchte zeitgleich mit der Linken seine Finger vom Magazin zu lösen. Auch ohne medizinische Vorbildung war es mir ein Leichtes eine fortgeschrittene Gicht-Arthritis bei ihm zu diagnostizieren. Das war meine Chance und ich nutzte sie, mit einem lauten Schrei ließ Gunther los.
Der Stern war mein. Ich sprang von meinem Sitz, baute mich vor dem gebrechlichen Feind auf und hielt ihm das Objekt der Begierde auf armlänge hin.
"Wem gehört er jetzt, Gunther, wem gehört er jetzt. Häh?!"
Ich posierte für die Fotografen, nahm ein Bad in der Menge, jubelte meinen Fans zu und schien nicht bemerkt zu haben, zwischenzeitlich bereits aufgerufen worden zu sein. Die Sprechstundenhilfe stand mitten im Wartezimmer und ließ sich die Freude über meinen errungenen Sieg nicht anmerken.
Sie forderte mich im Folgenden höflich auf, die Praxis zu verlassen und auch in Zukunft einen anderen Arzt zu konsultieren.
Also, das nächste Mal greif ich besser zur "Bunte".