Es gibt wahrscheinlich kaum ein anderes Match, an das ich mich so gut erinnern kann wie an dieses; es ist wohl auch das Match, das mich zum Tennisfan gemacht hat. Und es war eigentlich gerade die Rivalität zwischen Steffi Graf und Martina Hingis, die es für mich so besonders gemacht hat.
Auch wenn ich davor kaum Tennis geschaut hatte - die einzige echte Ausnahme war das Finale der ATP-WM 1996 zwischen Becker und Sampras - so war mir Steffi Graf doch ein Begriff. Ich wusste, dass sie lange Zeit die Tour dominiert hatte, aber diese Rolle dann verletzungsbedingt an Martina Hingis abgeben musste. Und ich hatte definitiv noch im Ohr, dass sie sich oft nicht eben respektvoll über Steffi Graf geäußert hatte.
Als dann Graf endlich mal wieder für einige Monate verletzungsfrei war und die French Open auch noch genau in die Pfingstferien fielen, beschloss ich, mir die Matches von Steffi Graf anzusehen. Die ersten Runden waren kein echtes Problem. Im Achtelfinale traf sie dann auf Anna Kournikova - eine Spielerin, die zwar nie ein Turnier gewonnen hatte, aber damals in ihrer besten Zeit durchaus Tennis spielen konnte. Wenngleich sie damals noch mehr Schlagzeilen aufgrund ihres Aussehens gemacht hat. Aber sie war die erste echte Hürde, die Steffi Graf aus dem Weg räumen konnte. Einfacher wurde es nicht - im Viertelfinale wartete dann Lindsey Davenport, die damalige Nummer 2 der Welt und zu jener Zeit größte Rivalin von Martina Hingis. Sand war nicht ihr bester Belag, und so konnte Steffi Graf sich auch hier durchsetzen. Im Halbfinale traf sie schließlich auf die andere große alte Dame des Damentennis: Monica Seles - und ich habe noch den Kommentator im Ohr als er meinte: Wer hätte gedacht, dass wir diese beiden noch einmal im Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers gegeneinander spielen sehen würden! Steffi Graf gewann auch dieses Match, und so kam es dann im Finale zu dem großen Showdown gegen Martina Hingis.
Ehrlich gesagt, diesen einen Punkt beim 2:0 habe ich nie als so bedeutend empfunden. Es war ja kein Breakball, sondern der erste Punkt des Aufschlagspiels, wenn ich das richtig gesehen habe. Wäre er an Hingis gegangen, dann hätte es halt 0:15 gestanden. Aber wer weiß, wie dann die anderen Punkte gelaufen wären. Und ob es wirklich eine Fehlentscheidung war - ich vermag es nicht zu sagen.
In Erinnerung geblieben ist mir vor allem der fantastische Punkt etwa bei 10:27, wo Graf dann am Schluss leider den einfachsten Ball verschlagen hat. Hier dachte ich damals schon, dass das die Entscheidung gewesen sein könnte. Aber Graf konnte den Satz ja dennoch gewinnen - und dann auch das Match! Dass Hingis auch mal von unten aufgeschlagen hat, hatte ich ebenfalls noch in Erinnerung - und dass sie nach dem Match erst gar nicht zur Siegerehrung kommen wollte, ebenfalls!
Das Match hatte ich damals live gesehen, allerdings zunächst mehr so nebenher. Ich bin damals kein so großer Fan vom Damen-Tennis gewesen und auch nicht unbedingt von Steffi Graf. Ich ging eigentlich davon aus, dass Hingis gewinnen wird, weil Graf in den Jahren zuvor immer mehr Verletzungsprobleme hatte, während Hingis in Topform war. Das Finale war für Graf schon ein toller Erfolg. Die Spielweise von Hingis hat mir zwar gefallen, aber ich fand sie damals irgendwie nicht so sympathisch (Kommentare über Mauresmo und das dämliche Dauergrinsen). Ich habe also zunächst mit mäßigem Interesse und null emotionalem Investment zugesehen.
Der erste Satz verlief auch wie erwartet. Hingis mit tollem Ball-Placement, Graf ein wenig rusty und mit Fehlern, die es so in ihrer Prime kaum gab.
Der Punkt am Anfang des zweiten Satzes wurde imho etwas überbewertet. Er hat Hingis sicher genervt und das Publikum gegen sie aufgebracht, aber sie hat zunächst sehr gut weitergespielt. Das Spiel wird oft als mentale Implusion von Hingis beurteilt, meiner Meinung nach, war es aber eher ein körperlicher Einbruch, dem der mentale Einbruch auf dem Fuß folgte.
Auch wenn Hingis zu Beginn dominierte, die Rallys gewann sie nicht locker. Sie musste einen ziemlichen Aufwand betreiben, Graf bewegen und in zähen Rallys niederkämpfen. Hingis musste ihr bestes Tennis spielen und das gelang ihr auch. Die Intensität des Matches war gerade im zweiten Satz ziemlich hoch. In irgendeinem alten Video hatte ich mal gesehen, dass Chris Evert gegen Ende des zweiten Satzes mal sagte, dass Hingis keine Lust mehr auf harte Rallys habe und daher falsche Entscheidungen treffe, um irgendwie schnell Punkte zu gewinnen. Das war imho entscheidend.
Graf hat, auch als Hingis noch feldüberlegen war, versucht die Intensität des Matches hochzuhalten. Man konnte Hingis ein wenig ansehen, dass ihr gegen Ende des zweiten Satzes langsam die Puste ausging. Sie hat nach langen Rallys lange Pausen genommen, sich auf den Schläger gestützt, oder Selbstgespräche geführt. Sie hatte dabei zunächst ein etwas sarkastisches Lächeln, aber aus dem Ärger darüber das Match nicht beenden zu können wurde ziemlich schnell nackte Verzweiflung. Der Rückhandpassierball von Graf bei 4:5 war geradezu symbolisch dafür, dass Hingis nun nichts mehr hinzusetzen kann und Graf jetzt von der Fitness klar überlegen ist. Hingis, die damals noch nicht viel für ihre Fitness gemacht hat, war wie ein Boxer, der zwar noch nach Punkten führt, dem in den Championship Rounds aber die Puste ausgeht und der verzweifelt und schwer atmend dem Knockout entgegentaumelt. Die Pro-Graf-Atmosphäre, das Wissen, dass sie keine Reserven mehr hat, und ihre Jugend, haben dann meiner Meinung nach dazu geführt, dass Hingis sich dann am Schluss etwas danebenbenommen hat.
Damals war das für mich ein ungeheuer befriedigendes Endergebnis, denn ähnlich wie die Zuschauer vor Ort hat Hingis Verhalten mich dazu gebracht, von wohlwollender Neutralität ins 100% Graf Camp zu wechseln. Der Underhand-Serve und Hingis zwischenzeitliche Flucht vor der Siegerehrung, ihre Rückkehr unter Tränen, waren großes Drama und haben mich köstlich amüsiert. Nach großem Theater wurde das Böse besiegt, ich war insofern am Schluss sehr zufrieden. Ich war im Anschluss auch erstmal immer konsequent gegen Hingis.
Heute sehe ich das ein wenig differenzierter. Hingis war erst 18 Jahre alt, ist in den Jahren zuvor schnell aufgestiegen und egal wo sie auf der Welt auftrat, Erwachsene haben ihr Zucker in den Arsch geblasen und ihr erzählt wie toll sie ist. Es schien auch sportlich alles wie von selbst zu gehen. Unter solchen Bedingungen ist es für Teenager schwer sich immer sozialadäquat und sympathisch bescheiden zu verhalten.
Vor dem Match hat Hingis sich bereits mit ihren Sprüchen von wegen, Graf sei zu alt, enorm unter Druck gesetzt, obwohl das etwas war, was zu diesem Zeitpunkt auch viele Experten geglaubt hatten. Aber ein Teenager haut sowas dann halt auch ganz locker raus. Wie gesagt, sie hat zu der Zeit noch nicht viel für ihre Fitness gemacht außer halt Tennis, ein wenig wie vorher McEnroe. Sie hat gemerkt, dass ihre Gegnerin ihr zunehmend körperlich überlegen ist und noch Stunden mit gleicher Intensität weiter spielen kann und dazu das ganze Stadion geschlossen hinter sich hat. Hingis war in einer Krisensituation. Tausende Erwachsene in einer Betonschüssel haben gejohlt und gepfiffen als es einer "frechen" und respektlosen 18-Jährigen an den Kragen ging und sie hat darauf reagiert, wie man so reagiert als bockiger Teenager. Im Prinzip fußte die Mißgunst der Anti-Hingis-Fraktion auf ähnlichen niederen Instinkten, wie das Verhalten von Hingis selbst. Wenn man mal kurz darüber nachdenkt, wie nervös man selber mit 18 in der Schule war, wenn Lehrer und Mitschüler das eigene Referat kritisiert/belächelt haben, wie hätte man sich da erst gefühlt, wenn einen Tausende auspfeifen und ausbuhen und einem den maximalen Mißerfolg wünschen?
Einige Jahre später habe mir dann selber eingestanden, dass ich Hingis eigentlich immer sehr gerne spielen sehe, weil sie ein variantenreiches und intelligentes All-Court-Tennis spielt und es eigentlich keinen Sinn macht immer gegen jemanden zu sein, dem man lieber zusieht als der Konkurrenz. Aber da war es schon zu spät, da Davenport, Capriati und die Williams Sisters sie regelmäßig überpowert haben. Sie war dann zwar auch fitter, aber sie ist halt nie die große Athletin gewesen.