Wie ist die Situation in der italienischen Nationalmannschaft vor der EM?
Der Sturm: Roberto Mancini, Giuseppe Signori, Filippo Inzaghi, Roberto Baggio, Alessandro Del Piero, Fabrizio Ravanelli, Francesco Totti, Christian Vieri, Gianfranco Zola...diese Namen habe ich jetzt alle nur ohne kurz nachzudenken aus dem Ärmel geschüttelt. Bei genauerem Nachdenken würden mir sicherich noch zahlreiche weitere einfallen (wie beispielsweise Pierluigi Casiraghi, der mir just noch einfiel). Zwischen 1994 und 2006 setzte sich mit Ergänzungen der Sturm der Italiener aus diesen Weltklasseleuten zusammen. Unterschiedliche Spielertypen, aber allesamt weltklasse oder zumindest nahe dran. Namen, welche gegnerische Abwehrreihen erzittern liessen. Allesamt Tormaschinen. In den letzten Jahren fehlte den Italienern solch ein Ausnahmestürmer. Die Offensive setzte sich gefühlt aus immer dem selben Mann zusammen, der immer unter einem anderen Namen auftauchte. Spieler X, welcher bei einem besseren Verein - zum Beispiel Roma - gute Leistungen zeigte. Er wird in die Nationalmannschaft berufen, wechselt dann zu Juventus. Dort spielt er nicht regelmässig, kann sich nicht durchsetzen. Er wird nicht mehr in die Nationalmannschaft berufen. Juve schiebt ihn zu Milan ab, wo er auch nicht spielt. Bei Bologna wird die Karriere neu lanciert. Dort trifft er wieder, wechselt zu Genoa...trifft auch dort. Die Nationalmannschaft hat ein Sturmproblem, also kehrt Mister X zurück zur Nationalmannschaft. Als treffsicherer Mann in der Serie A und Nationalmannschaftsspieler kann man es wieder bei einen Grossclub versuchen, also ab zu Inter, wo es wieder nicht läuft. Diesen Spieler X mit diesem Karriereverlauf gibt es so nicht, aber so haben sich in meinem Kopf gefühlt die Karrieren der One, Two oder Three-hit Wonder zusammengemischt, welche in den letzten Jahren sich in der Squadra abwechselten. Die Namen sind mir noch bekannt, die Karriereverläufe nicht mehr wirklich.
Diese ganze Mischmasch der Amauris, Gilardinos, Cassanos, Borriellos, Osvaldos, Matris, Iaquintas, Quagliarellas, Giovincos etc. dieser Welt. Jetzt mal so ganz ohne Nachschauen die Karriereverläufe einiger der oben genannten Spieler:
R. Baggio: Florenz, Juventus, Milan, Bologna, Inter, Brescia
Inzaghi: Atalanta, Juventus, Milan
Ravanelli: Juventus, Middlesborough, Marseille, Lazio, Derby County
Vieri: Juventus, Atletico Madrid, Lazio, Inter, Milan, Monaco
Googlet, korrigiert mich, es sind sicher Fehler darunter, aber ich denke die meisten Vereine habe ich in etwa gebacken bekommen (eventuell fehlt mal einer oder ein Verdreher in der Reihenfolge ist da). Bei Gilardino, Borriello etc. hab ich weder Plan von der Laufbahn noch wo sie aktuell spielen. Ok, Giovinco ist in Toronto und Osvaldo in Porto, soviel ist da. Aber das ist auch nicht der springende Punkt, sondern derjenige, dass Italien seit Jahren nur noch Stürmer hervorbringt, welche sich in den Topclubs nicht durchsetzen können und dann durchs ganze Mittelmass der Serie A tingeln. 3 Ausnahmen bestätigen die Regel.
Antonio Di Natale: Wurde im Stadion von Udinese gezeugt, geboren und wird auch dort begraben werden. Gefühlt älter als die Zeit selbst. Spielte damals schon mit Cäsar im Kolosseum um Cleopatra zu beeindrucken. Lange Zeit Torgarant, aber da sein Vertrag Ende Saison ausläuft wird er vermutlich mit dem Fussball aufhören, oder die grosse sportliche Herausforderung irgendwo in China, Katar, den USA oder sonstwo suchen.
Mario Balotelli: Fällt als dunkelhäutiger Spieler in der italienischen Nationalmannschaft auf. Fällt auf, weil er deswegen rassisisch beschimpft wird. Fällt auf, weil er oft neben dem Platz wie ein Wahnsinniger agiert. Fällt auf, weil er oft auf dem Platz wie ein Wahnsinniger agiert. Fällt auf, weil er neben dem Platz auch oft für gute Taten zu haben ist. Und fiel auf, weil er mal 2 Tore gegen Deutschland schoss, die nicht so gut für Deutschland waren. Pendelt seit einiger (zu langer) Zeit zwischen Verletzungen und Formschwankungen. Hätte theoretisch das Gesamtpaket um in die Reihen grosser italienischer Stürmer einzuziehen, aber praktisch scheitert es an vielen Dingen (aktuell in erster Linie an der Art wie er Fussball spielt).
Luca Toni: Spielte gefühlt in allen italienischen Clubs, dann gute WM, Wechsel zu Bayern, dort sehr gute Leistungen, dann aber Rückkehr nach Italien wo er in verschiedenen Topclubs und kleineren Vereinen sein Glück versuchte und zunächt nicht fand. Drohte zum Amauriaquintagiovinco (Copyright: Mephmanjo/JL13) zu werden, fasste aber immerhin bei Hellas Verona Fuss und schiesst dort im zarten Alter von 37 wieder Tore am Laufband. Mit den Bayern hat er immerhin auch einen Topclub in der Vita, bei dem er in der Nähe der Weltklasse war.
Aktuell scheinen sich einige der Cassanosvaldomatris (Copyright: Mephmanjo/JL13) sich zu etablieren und längerfristig in der NM durchzusetzen. Zu erwähnen wäre der eingebürgerte Brasilianer Eder von Sampdoria, der Englandlegionär Pelle, Zaza von Juventus, Berardi von Sassuolo, sowie der eingebürgerte Nigerianer und Belgienlegionär Okaka. Dazu El Shaarawy welcher bei Monaco seine Karriere zu rebooten versucht und einige andere, welche bald in einer Reihe mit Gilardino und Co. zu nennen sein werden. Besonders Zaza und Berardi gelten als grosse Talente, El Shaarawy galt zumindest einmal als eines. Unter Umständen werden sich diese Leute dauerhaft etablieren, einen neuen Del Piero oder Baggio sucht man darunter auf den ersten Blick aber vergeblich.
Ok, der Sturm ist Käse (Parmesan? Mozzarella? Schlechter Witz am Rande, weiter im Text). Wie schaut es im Mittelfeld aus? Dort trauert man der guten alten Zeit nicht so sehr hinterher...weil mit Pirlo und de Rossi zwei Spieler aus der guten alten Zeit noch dabei sind. Zusammen sind sie jedoch ca. 70 Jahre alt. Gattuso, Dino Baggio, Albertini, Ambrosini, Di Matteo...solche Spieler hat man nicht, allerdings Montolivo, Verratti, Marchisio...das Mittelfeld ist trotz des beiden Dinos (nicht der Vorname sondern die Dinger aus dem Jurassic Park) okay.
Die Abwehr: Wo sich früher Maldini, Costacurta, Bennarivo, Cannavaro, Materrazzi, Nesta etc. tummelten, steht jetzt der Juventusabwehrblock um Chiellini, Barzagli und Bonucci. Dieser ist sehr solide. Ergänzt wird er durch Leute wie Santon, Ranocchia, Abate, De Sciglio oder Darmian, welche zwar alle viel Potenzial udn Talent haben, deren Leistungen aber schwankend sind.
Das Tor: Italien war früher eine Torwartnation. In den 90ern und 00ern duellierten sich Leute wie Pagliuca, Perruzzi, Zenga, Marchegiani, Toldo, Bucci und ein gewisser Buffon um die Nummer 1 im Tor. Im Jahr 2016 steht immer noch ein gewisser Buffon im Tor. Mittlerweile so alt wie...naja ihr wisst schon, siehe Pirlo, Di Natale etc. alt halt. Hinter ihm die Sinflut. Sirigu war lange Zeit die etatmässige Nr. 2, ist aber bei Paris nicht mehr unumstritten seit Trapp dort ist. Perin, Marchetti und Padelli sind solide bis gut, aber halt nicht auf der Qualität von früherern Torhütern. Aber gut, im Tor wird ohnehin nur einer stehen und das wird der 200-jährige (ja ja, ist ja gut) Buffon sein. Die Frage ist wie lang der noch im Tor stehen wird. Vermutlich nicht mehr so lange mit seinen gefühlt 300 (ja ich hör schon auf) Jahren.
Zwischenfazit: Früher war alles besser. Oder? Betrachten wir mal die Ergebnisse der Italiener an grossen Turnieren, seit ich es verfolge.
WM '94: 2.
EM '96: Gruppenspiele
WM '98: Viertelfinale
EM '00: 2.
WM '02: Achtelfinale
EM '04: Gruppenspiele
WM '06: Weltmeister
EM '08: Viertelfinale
WM '10: Gruppenspiele
EM '12: 2.
WM '14: Gruppenspiele
Italien hat immer geschwankt in der Zeit. Solide Leistungen wie Viertel- und Achtelfinale, grandiose Leistungen wie Finalteilnahmen und Turniersiege oder katastrophale Leistungen wie Ausscheiden in Gruppenspielen. All das fand permanent statt. Der Gap mit dem Generationenwechsel fand ca. nach dem WM-Sieg statt. Zwar stehen da danach gleich zwei Ausscheiden in Gruppenspielen da, allerdings auch eine Finalteilnahme dazwischen und das ohne die viele glänzende Namen (nur die 400-jährigen Buffon, Pirlo etc. [ok jetzt echt das letzte Mal]). Italien ist durchaus in der Lage mit einer starken Teamleistung den Mangel an individueller Qualität zu kompensieren. Italienische Teams galten immer als taktisch stark, egal ob auf Vereins- oder Nationalmannschaftsebene. Die Frage ist bloss, ob Conte das wiederholen kann, was Prandelli 2012 geleistet hat. Italien hatte immerhin eine gute Qualifikation. 3 Unentschieden (2x gegen Kroatien, 1x gegen Bulgarien) bei 7 Siegen (unter anderem 2x gegen Norwegen). Im Gegensatz zu anderen Teams an der EM, bei denen man die Uhr stellen kann ob sie irgendwo zwischen Gruppenspielen und Achtelfinale scheitern werden (England von den Grossen und vermutlich zahlreiche der Kleinen um Island, Wales, Albanien, Ungarn...) oder mindestens ins Halbfinale einziehen (spontan würde ich da auf Frankreich, Belgien und Deutschland tippen) ist Italien ein Dark Horse. Da ist zwischen dem Aus in der Gruppe und dem Titel echt alles drin. Fakt ist alelrdings, dass Italien seit geraumer Zeit kaum noch Spieler mit der Qualität und der Ausstrahlung solcher Legenden wie Maldini und Baggio produziert, was sich auch auf die Qualität der heimischen Vereine auswirkt. Aber das ist eine andere Geschichte. Auf die Italiener darf man jedenfalls gespannt sein. Vor den Turnieren kommen alle "Experten" aus ihren Löchern und geben ihre Tipps ab. Häufig hört man "Italien muss man immer auf der Rechnung haben". Egal wie abgedroschen es klingt, es ist so.