Es geht doch nicht um die Anzahl der Ballaktionen. Sonst wären ja die Stürmer am unwichtigsten.
Und den Rest des Satzes sehe ich komplett gegenteilig:
- komplexere Entscheidungen: Inwiefern? Ein Verteidiger hat meistens sogar noch die "Notlösung" zurück zum Torwart zu spielen parat, die hat ein Torwart schonmal nahezu nie. Dass man mehr Möglichkeiten (Anspielstationen) hat, ist für mich das Gegenteil von Komplex, weil man freier agieren kann.
- weniger Zeit am Ball: Das lässt sich pauschal überhaupt nicht sagen. Es gibt sowohl Beispiele für Torhüter unter Bedrängnis als auch für Verteidiger, kommt immer auf die Spielsituation an. Und wie bereits gesagt hat der Verteidiger meist noch die Notfalllösung Torwart.
- höheren Gegnerdruck: Das stimmt bedingt (gegen Schalke wurde auch Neuer konsequent angelaufen), aber relativiert sich mMn durch die bereits erwähnte Notfalllösung
Insofern sehe ich es überhaupt nicht als leichter an, auf der Torwartposition die Bälle zu spielen als auf IV-Position.
Aber selbst darum geht's eigentlich gar nicht.
Fakt ist nämlich auch, dass eben weil du Prime Boateng erwähnt hast, daneben auch noch andere Verteidiger stehen können, die nahezu nichts mit dem Spielaufbau zu tun hatten, siehe Dante. Ein super Verteidiger damals, aber Spielaufbau? Da kannst du die von dir genannten "soliden Bundesligaverteidiger" durchaus auch hinstellen. Und auch im Gesamtpaket war er nicht unersetzbar, eben weil er auch einfach nicht der Einzige in der 4er-Kette war, gab ja auch noch Lahm und Alaba.
Insofern lässt sich natürlich auch ein Boateng leichter ersetzen als ein Neuer, solange nicht der Rest der 4er-Kette auch mit Fallobst besetzt werden muss.
Die Anzahl der Ballaktionen habe ich nur genannt weil sie als Hinweis darauf dienen, wie sehr ein Spieler am Spielaufbau beteiligt ist. Wobei man das natürlich auch nie rein quantitativ angehen sollte. Hummels oder Pique spielen mit Sicherheit mehr öffnende Pässe als Otamendi oder Sokratis. Und bei Keepern (egal wie gut die sind) sind das mehrheitlich auch "nur" einfache Bälle zum Verteidiger und nur selten der gefährliche Ball in die Schnittstelle im Mittelfeld.
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Für mich ist eindeutig, dass es der Keeper im Spielaufbau viel einfacher hat. Natürlich ist das im Einzelfall auch abhängig von der Spielsituation und vielen einzelnen Faktoren. Aber grundsätzlich gibt es doch eine ganz unterschiedliche Erwartungshaltung und Aufgaben für Feldspieler und Keeper.
Gegen extrem tiefstehende Mannschaften haben sowohl Keeper als auch Verteidiger keinen Gegnerdruck sondern passen sich ohne Bedrängnis in Ruhe die Bälle zu. Mit dem Unterschied, dass der Verteidiger auch gefordert ist Lösungen nach vorne zu finden und Gegner zu überspielen bzw das Mittelfeld einzusetzen. Natürlich kannst du dann immer den Pass zurück zum Keeper spielen. Aber das ist ja kaum was der Trainer von dir erwartet. Selbst mit ganz viel Geduld muss ja irgendwann der Pass nach vorne kommen. Bei dem Szenario ist der Keeper überhaupt nicht gefordert.
Wenn der Gegner nicht total mauert, werden die Verteidiger angelaufen. Die gegnerische Mannschaft hat einen Plan welche Bälle erlaubt bzw verhindert werden sollen und haben unter Umständen auch klare Pressingfallen. Da muss der Verteidiger extrem konzentriert sein. Er hat zwar immer die Möglichkeit zum Keeper zurückzuspielen aber auch hier gilt ja: Eigentlich werden Lösungen nach vorne erwartet.
Der Keeper hat eigentlich nur Druck wenn der gegnerische Trainer Angriffspressing spielen lässt bzw die Stürmer dann auch den Torwart attackieren. Aber bei dieser Spielweise sorgt das ja automatisch auch bei den Verteidigern für maximalen Druck und Stress. Als Torhüter hast du das gesamte Spiel vor dir. Als Verteidiger bietest du dich auch mit Blick in Richtung eigenes Tor an und hast dann Gegenspieler im Rücken. Das ist deutlich anspruchsvoller und komplexer. Natürlich kann der Keeper nicht mehr eine weitere Station nach hinten spielen. Dafür bolzt er die Bälle dann eben nach vorne. Das ist jetzt auch nicht unbedingt die anspruchsvollste Aufgabe.
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Zum zweiten Teil.
Natürlich besteht die Abwehr aus mehreren Spielen. Aber jeder gegnerische Trainer attackiert das schwächste Glied der Kette. Wenn du Prime Boateng mit Dominique Heintz ersetzt werden natürlich Hummels, Lahm und Alaba im Spielaufbau zugestellt. Die Stürmer verschieben nicht einmal sondern machen das Mittelfeld eng und lassen einfach Heintz jeden Angriff einleiten. Da hilft dir dann auch der Keeper nicht. Und genauso wird der natürlich defensiv vom gegnerischen Team attackiert.
Ein durchschnittlicher Verteidiger produziert mehr verlorene Zweikämpfe, mehr Ballverluste, mehr Stellungsfehler und mehr Szenen bei denen er physisch unterlegen ist. Der kann dann eben nicht Aushelfen wenn Hummels überlaufen wird. Diese ganzen Szenen summieren sich auf und am Ende gleicht auch der bessere Keeper im Tor das nicht aus.
Für mich ist absolut sicher, dass eine Schwächung in der Innenverteidigung sich viel größer auswirkt als eine vergleichbare Schwächung im Tor. Und natürlich auch, dass das Spielsystem kaum so stark vom Torhüter abhängt. Real Madrid hat aktuell (auch ohne Durchschlagskraft in der Offensive) eine der ballsichersten und spielstärksten Mannschaften der Welt. Da steht mit Courtois ein Holzfuß im Tor. Das Musterbeispiel für Ballbesitz ist die spanische Nationalmannschaft und die hatten mit Casillas einen Keeper der die Bälle auch lieber klar geklärt hat.
Es ist irrsinn zu glauben, dass da einfach ein Schwolow oder irgend ein anderer Bum einspringt und wir machen so weiter wie bisher. Dass man allein so einen Müll von sich gibt, nachdem vor knapp zwei Jahren ein überdurchschnittlicher Buli Torhüter der Marke Baumann Liverpool den CL Titel verkackt hat und man 60 Mio in die Hand genommen hat um diese Baustelle zu schliessen, ist mir völlig unbegreiflich.
Jetzt aber langsam... Ich habe doch nie geschrieben, dass man Neuer durch Baumann und Co ersetzen kann und Bayern dadurch keine Qualität verliert. Ich habe mehrfach geschrieben, dass das natürlich einen Unterschied macht. Genauso wie Alisson im Tor natürlich ein Riesenupgrade gegenüber Katastrophen Karius oder dem aktuellen Backup Adrian ist.
Die Kernfrage war: Wie groß ist der Einfluss eines Weltklasse Keepers verglichen mit Weltklasse Feldspielern.
Wenn wir die Diskussion hier also auf Liverpool übertragen. Wofür würde sich Klopp entscheiden?
Eine Saison mit Alisson im Tor und Lovren als IV
Eine Saison mit Adrian im Tor und Virgil van Dijk als IV
Für mich kann es da nur eine Antwort geben.