Ok, ich versuch mich dann mal an einer Einschätzung zum morgigen Gegner Norwegen. Dass die Norweger die Runde der letzten Vier erreicht haben, ist mMn eine ebenso große Überraschung wie der Halbfinaleinzug der Deutschen. Hätte nicht gedacht, dass für die Skandinavier am Ende mehr als Platz 7 bis 8 rausspringt. Aber der Reihe nach.
Jüngere Vergangenheit:
Die norwegischen Erfolge der jüngeren Vergangenheit sind überschaubar. Ein siebter Platz (2005) ist das beste norwegische Ergebnis bei Weltmeisterschaften seit 2000. Bei den letzten beiden WMs wurde die Qualifikation sogar komplett verpasst. Bei Europameisterschaften sprang 2008 mal ein sechster Platz heraus.
Turnierverlauf:
Der Turnierverlauf der Norweger gleicht einer Achterbahnfahrt - und ganz ehrlich: Ich kann über die Ergebnisse teilweise nur den Kopf schütteln. Gleich das erste Spiel gegen Island setzte Norwegen mit 25:26 in den Sand. Island blieb in der Folge ohne weiteren Sieg bei der EM. Im zweiten Spiel schlug Norwegen dann sensationell die bärenstarken Kroaten (34:31). Im dritten Spiel setzten sich die von Christian Berge (1999-2006 SG Flensburg) trainierten Skandinavier nur mit Mühe gegen Weißrusland durch (29:27), um dann in der Zwischenrunde den favorisierten Gastgeber Polen zu schlagen (30:28). Der Rückschlag folgte in der nächsten Partie, als Norwegen gegen Mazedonien nicht über ein Unentschieden hinauskam. Es war einer von nur zwei Punkten, den das im kompletten Turnierverlauf sieglose Mazedonien bei dieser EM überhaupt erringen konnte. Die Überraschung folgte auf dem Fuß. Gegen Frankreich mit ihren (alternden) Giganten Daniel Narcisse, Nicola Karabatic und Luc Abalo setzte sich Norwegen recht locker mit 29:24 durch.
Kader:
Klingt bei einem Halbfinalisten vielleicht blöd, aber ein Bick auf den norwegischen Kader ist erstmal wenig beeindruckend. Es fehlen die großen Namen der Franzosen, es fehlt die Breite der Dänen, es fehlt die technische Extraklasse der Kroaten. Aber offensichtlich ist hier aus Spielern, die zum Großteil "nur" gut sind, eine homogene Einheit entstanden, die den großen Handballnationen Paroli bieten kann. Das ist eine Parallele zum Deutschen Team. Wie im Falle der Dänen werde ich nicht alle Spieler beschreiben, sondern nur die, die mMn am relevantesten für die Partie morgen sind. Ich muss leider einiges am Wikipedia-Wissen dazupanschen, weil ich ein paar Spieler nicht wirklich gut kenne.
Torhüter: Ole Erevik (35) und Espen Christensen (30):
Erevik verschlug es nach dem Anfang seiner Karriere in Norwegen rasch nach Spanien, wo er 2007 zum besten Torhüter der Saison ausgezeichnet wurde. Erevik wurde daraufhin vom SC Magdeburg verpflichtet, wo er aber nicht an Silvio Heinevetter vorbeikam. Er hatte im Anschluss eine recht erfolgreiche Zeit in Dänemark, heute hütet er beim französischen Mittelklasse-Klub Pays d'Aix das Tor. Christensen stand mehrere Jahre bei schwedischen Vereinen unter Vertrag, seit 2015 hütet er das Tor des dänischen Tabellensechsten GOG Gudme. Der jüngere Christensen bekommt bei dieser EM etwas mehr Spielzeit als Erevik. Es ist eventuell übertrieben, die Torhüterposition als große Schwäche der Norweger zu bezeichnen. Aber mit nur 27 Prozent parierter Bälle (Wolff 35 Prozent) ist Christensen auf dem Papier der drittschwächste Torhüter der EM.
Linksaußen: Magnus Jondal (27):
Ich hab ihn bestimmt schonmal spielen sehen, kenne ihn aber ehrlich gesagt nur vom Namen. Er ist nie wirklich aus seiner Heimat rausgekommen und spielt momentan für Norwegens Tabellenführer Arendal. Seine Bilanz in der Nationalmannschaft ist für einen Außenspieler zumindest ok. In 66 Länderspielen warf er bis Anfang des Jahres 142 Tore. Bei der EM sind seine Werte allerdings stärker. In den bisherigen sechs Partien traf er immerhin 22 mal.
Rückraum Links: Espen Lie Hansen (26):
Der könnte mit einer gesunden Portion Wut im Bauch gegen die Deutschen auflaufen. Er galt als großes Talent und kam 2014 mit vielen Vorschusslorbeeren zum SC Magdeburg. Dort präsentierte er sich aber ganz schwach und verunsichert. Konnte sich auf und außerhalb des Feldes nicht integrieren. Sein Kollege im rechten Rückraum, Andreas Rojewski traf regelmäßig doppelt so oft wie er. Magdeburg löste den Vertrag vorzeitig auf und gab ihn nach Österreich ab. Bei Bregenz hat er sein Selbstvertrauen offenbar wiedergefunden. Er ist einer der besten Torschützen der österreichischen Liga (122 Tore in 18 Spielen) und auch seine Quote in der Nationalmannschaft liest sich stark (294 Tore in 88 Spielen). Ein wurfgewaltiger, gefährlicher Mann, der bei dieser EM der zweitbeste norwegische Torschütze (27) ist.
Rückraum Mitte: Sander Sagosen (20):
Galt/gilt als das größte Talent Europas auf der Spielmacherposition. Debütierte mit 18 in der Nationalmannschaft und wurde schon früh mit Kiel und Barcelona in Verbindung gebracht. Machte aber zunächst aus Norwegen den Schritt zur dänischen Spitzenmannschaft Aalborg, wo er erste Erfahrungen in der Champions League sammeln konnte. Hab vor der EM länger nichts mehr von ihm gehört und dachte er stagniert vielleicht. Aber bei der EM präsentiert er sich stark. Er hat eine unglaubliche Spielübersicht und Tore werfen kann er auch. Zahlt in einigen Situationen noch ein wenig Lehrgeld und könnte noch ein paar Kilo Körpermasse zulegen.
Rückraum Rechts: Kent Tonnesen (24):
Spielt seit 2013 in der Bundesliga, seit 2015 bei den Füchsen Berlin. Ich hab sein Spiel jetzt nicht ganz genau verfolgt, aber seine Leistungen in Deutschland haben mich jetzt nie besonders beeindruckt. Liegt aktuell in der Torjägerliste der Bundesliga auf Rang 99 und hat in 20 Spielen 43 mal getroffen. Seine Quoten in der Nationalmannschaft waren bis Anfang des Jahres auch nicht überragend (49 Spiele, 100 Tore), aber bei der EM scheint er zu explodieren. Mit 24 Toren, sechs davon gegen Frankreich, ist er der zweitbeste norwegische Schütze.
Rechtsaußen: Kristian Bjornson (27):
Ihn hatte wohl niemand so stark auf der Rechnung. Bjornson spielt noch bis Ende der Saison in der eher zweitklassigen schwedischen Liga und wechselt im Sommer in die Bundesliga. Aber nicht zu einem der Elite-Klubs, sondern zur HSG Wetzlar. Die haben sich offenbar eine Granate geangelt. Bjornson trifft bei dieser EM von Rechtsaußen wie er will und liegt mit 34 Treffern in der Torjägerliste ganz weit vorne. Krass, dass er trotz 192 Toren in 45 Spielen für die Nationalmannschaft erst so spät den Schritt in eine große Liga wagt.
Kreisläufer: Joakim Hykkerud (30):
Spielt seit 2012 in Hannover und ich hab ihn nie als einen der Besten seiner Zunft wahrgenommen. Hat in dieser Saison in Hannover in 20 Spielen 37 Tore erzielt, auch seine Quote in der Nationalmannschaft (34 Tore in 40 Spielen) ist ausbaufähig. Bei dieser EM kommt er zumindest auf zehn Tore.
Die Bank:
Die Bank der Norweger ist nicht mit der der Dänen zu vergleichen. Hykkerud ist kein Elite-Kreisläufer, seine Back-Ups Magnus Gullerud und Bjarte Myrhol sind es noch weniger bzw. nicht mehr. Der linke Rückraum ist hinter Hansen ebenfalls schwach besetzt. Da seh ich nur den in die Jahre gekommenen Mamelund (Kiel), der seinen Wurf verloren hat und bei dieser EM erst einen Treffer erzielt hat. Die dritte Problemzone ist Rechtsaußen: Da haben die Norweger mit Thomas Kristensen von FA Göppingen (5 Saisontore) niemanden, der Bjornsen auch nur ansatzweise ersetzen könnte.
Andre Lindboe scheint mir auf Linksaußen hingegen zumindest ein okayer Ersatz für Jondal zu sein und auf Rückraum Mitte haben die Norweger mit Christian O' Sullivan sogar einen richtig starken Mann, falls Sagosen eine Pause braucht. Ebenso ist Harald Reinkind von den Rhein-Neckar-Löwen ein ordentlicher Ersatz für Tonnesen auf Rückraum Rechts.
So, das war's erstmal mit meiner Einschätzung. Mögliche Taktik und meine subjektive Sicht auf Stärken und Schwächen kommen später.