Ich bin aufgrund eines unerfreulichen privaten Vorkommnisses etwas durch den Wind und kann daher auch die Analysen nicht so fertigstellen, wie ich das gerne würde.
Gestern habe ich mir zur weiteren Einstimmung noch einmal Klitschkos Duell mit Ruslan Chagaev angesehen.
(1) Zwischen dem Klitschko aus dem Brock-Kampf und dem letztjährigen liegen kleine, aber keineswegs unbedeutende Gräben. Gemeinhin wird der Beginn der Zusammenarbeit mit Steward als Grenzlinie zwischen dem jungen und dem gereiften Wladimir gezogen. Wie sehr sich Klitschko aber auch unter Steward von Kampf zu Kampf entwickelte, wird deutlich, wenn man sich zuerst den Kampf mit Brock, dann jenen mit Chagaev anschaut
(2) Der Amerikaner Brock war an dem Abend wohl der unbequemste Gegner, den Klitschko seit dem Kampf mit Sam Peter bis heute geboxt hat. Dafür sprechen die zahlreichen Treffer, die er gegen Brock nehmen musste, und die offensichtlich gewordene Notwendigkeit, den Gameplan in die richtige Richtung zu bringen. Mehr als fünf Runden hat es letztlich gedauert, bis Klitschko die für ihn so wichtige Distanz gefunden hat
(3) Springen wir in die Arena auf Schalke: Klitschko gegen Chagaev. Allen Unkenrufen („Was kann der Usbeke noch?“) zum Trotz konnte man damals davon ausgehen, dass Chagaev zumindest nominell zu den besseren Gegnern in Klitschkos Kampfrekord gehören wird. Am Ende durfte man jedoch einer Demontage sondergleichen beiwohnen: Chagaev war bis zur Aufgabe ohne jede Chance. Wie konnte das sein? Er mühte sich durch Pendelbewegungen dem gestochen scharfen Jab des Doppelweltmeisters auszuweichen. Das ist ihm mal mehr, mal weniger gelungen. Zwar blieb der entscheidende Schritt in den Mann, in die Halbdistanz nur allzu häufig aus, doch wenn Chagaev an der Schraube zog, war Klitschko meist einen Schritt schneller. Man sah: Nicht nur der bärenstarke Jab diktiert die richtige Distanz – auch Klitschkos geschärfte Wahrnehmung, die ihn Aktionen des Gegners antizipieren und somit vermeiden lässt. Ich fühlte mich bei der Sichtung der Bewegungsabläufe an ein Uhrwerk erinnert, in dem jeder Zahn in den nächsten greift. Oben der Jab – unten die Beinarbeit
(4) Befindet sich der Gegner in der optimalen Reichweite der langen Hände Klitschkos, steht er unweigerlich auf verlorenem Posten. Diese Erfahrung musste auch Defensivkünstler Chris Byrd im ersten Kampf der beiden machen, diese Erfahrung machten danach unzählige andere. Unter Steward hat Klitschko nach und nach gelernt, wie man diese Reichweite bombensicher herstellt. Chagaev war zu langsam auf den Beinen und zu langsam mit den Fäusten, um an Klitschko heranzukommen. Die Distanz blieb trotz aller Bemühungen bestehen: Ein Indiz dafür, wie schwer es ist, unter den Jabs des Ukrainers hinweg zu tauchen. Es war also von der ersten Sekunde an nur eine Frage der Zeit, bis er von den ersten harten Händen auf der Innenbahn angeschossen ist
(5) Wie heißt das Zauberwort, wenn man vor Klitschkos verschlossenen Toren steht? „Druck“? Das ist leider nur die halbe Miete. Druck ist ein probates Mittel, um den Weltmeister vor Probleme zu stellen. Das ist Brock gelungen, einem Thompson geglückt – wir sehen plötzlich einen Weltmeister, der unter dem Eindruck von Gegentreffern fahrig wird, sein auf kontrollierte Offensive bedachtes Boxen über Bord zu schmeißen scheint. Das mag in der Tat stimmen – doch zu welchem Preis haben sich die beiden Amerikaner diesen kleinen Genuss erkauft? Letztlich sind beide unter der Last schwerster Gegentreffer, die sie in ihren Offensivbemühungen nehmen mussten, zusammengebrochen. So ging es schließlich auch dem Byrd des Rückkampfes, der an Schnelligkeit eingebüßt hatte. Byrd versuchte, seinen Jab zu etablieren und ist gleich mehrmals in eine als Konter geschlagene Schlaghand reingelaufen. Auch das ist ein probates Mittelchen, das Wladimir bis heute aus dem Arzneimittelschrank zaubert
Was heißt das für Eddie Chambers:
(1) Chambers wird versuchen, den eigenen Jab zu bringen. Soviel steht nach den Aussagen einiger Trainingsbeobachter fest. Er hat zudem die Anweisung, nach Luftlöchern sofort die Deckung hochzuziehen und das Weite zu suchen. Es sieht also in der Tat nach der bereits erwähnten Stick & Move-Taktik aus
(2) Eddie machte bereits gegen Dimitrenko den Fehler, sich hinter seiner Doppeldeckung verschanzend, in der Schlagdistanz des Ukrainers aufzuhalten. Insbesondere in den hinteren Runden. Er müsste gegen Wladimir zwölf Runden in Bewegung bleiben können, um die Distanz nach Belieben zu vergrößern oder an den Mann zu kommen. Er hat nach eigenen Aussagen zwar seit Juli letzten Jahres soviel Konditionstraining absolviert wie noch nie zuvor in seinem Leben, aber ich bezweifle, dass er über mehrere Runden hinweg ein hohes Tempo gehen kann. Klitschko wird das wissen und auch zum Körper hin arbeiten
(3) Wenn er an den Mann kommen möchte, wird er die ein oder andere harte Hand verdauen müssen. Er war in seiner Karriere meines Wissens nach bisher noch nicht angeklingelt, unter anderem mit Punchern wie Sam Peter und Raphael Butler im Ring. Chambers steht und fällt mit der Frage, ob er den Flächenschaden durch Klitschkos Jab vermeiden kann. Übrigens: Für meine Begriffe sollte man in seiner Ringecke nicht den Fehler begehen und sich von dem überragenden Sieg über Dimitrenko blenden lassen. Der Ukrainer ist ein unfertiger Riese mit schneidiger Führhand, der aber in seiner Karriere bislang kein angemessenes Distanzgefühl entwickeln konnte. Dem Anschein nach hat man bei Chambers aber genau diesen Fehler begangen. In Sachen ‚Ring Generalship‘ ist Dimitrenko weit von der Klasse eines Klitschko entfernt
Ich fasse zusammen: Um realistische Siegchancen zu haben, müsste Chambers eine optimale Leistung abrufen. Mit einer Stick & Move-Taktik seine Einzelhände platzieren, am Mann die Flurries rauslassen, variabel zu Körper (da ist Klitschko sehr verwundbar) und zum Kopf (linker Haken), und den Weltmeister mit diesen Mückenstichen frustrieren. Sollte Klitschko seine Linie verlassen, traue ich Chambers soviel Potential zu, aus dieser Situation Kapital zu schlagen. Ob Chambers‘ Schlagkraft allerdings reicht, um Klitschko erheblicheren Schaden zuzufügen, vermag ich nicht zu beurteilen. Zumindest reicht es, um den Gegner zu „cutten“ oder ihm offensichtliche Blessuren zuzufügen, für die sich ein Klitschko in der Vergangenheit stets empfänglich zeigte. Entscheidend bleibt, dass er sowohl mit den Kontern des Champs wie auch mit dem Jab vernünftig umgehen kann – wie auch immer das aussehen mag, bisher gab es keine Blueprint dafür. Wie der Fightwriter bereits schrieb, lautet die sicherste Vorhersage
„Punktsieg auf Klitschko“. Etwaige konditionelle Probleme oder mentale Blockaden, unter denen Chambers schon gegen Povetkin litt, könnten auch einen
vorzeitigen Sieg des Ukrainers für das letzte Kampfdrittel bereiten. Obwohl ich Chambers als Boxer sehr schätze, sehe ich seine Siegchancen eher kritisch. Das heißt nicht, dass sie nicht da wären. Aber er müsste soviele Bedingungen erfüllen und soviel richtig machen, dass ich am Ende lieber auf Ockhams Rasiermesser vertraue und die einfachste Erklärung bevorzuge.
PS: Viel Spaß allen mit dem Kampf.