Ja, Erwartungshaltungen sind ein interessantes Thema. Ich würde da grundsätzlich zwischen kurzfristiger und langfristiger Erwartung unterscheiden. Die kurzfristige Erwartung speist sich aus den Ergebnissen der letzten Wettkämpfe, die langfristige Erwartung speist sich aus den Ergebnissen der letzten Jahre.
Während der letzten Saison, als die deutschen Springer im Prinzip keine Chance gegen Granerud, Kubacki, Kraft und Lanisek hatten, wenn diese vier Springer optimal gesprungen sind, habe ich eigentlich bei keinem Wettkampf einen Podestplatz erwartet (außer in Rasnov, weil da die genannten vier nicht am Start waren). Ich habe aber durchaus aufgrund der Ergebnisse der vergangenen Jahre bzw. aufgrund der generellen Voraussetzungen fürs Skispringen in Deutschland erwartet, dass der DSV die Krise übersteht, und im folgenden (also diesem) Jahr wieder näher an der Spitze ist. Diese Erwartung haben die deutschen Springer im bisherigen Saisonverlauf noch deutlich übertroffen.
Mannschaftlich gesehen ist das der beste Saisonstart, den wir überhaupt jemals hatten; es gab zumindest noch nie eine Saison, in der bei jedem einzelnen Wettkampf vor der Tournee mindestens ein deutscher Springer auf dem Podest stand.
Aber klar, dadurch steigen auch die kurzfristigen Erwartungen. Falls die deutschen Springer heute keinen aufs Podest bringen, würde ich zumindest nicht von einem guten Ergebnis sprechen. Ein Beinbruch wär's aber auch nicht, es kann ja nun nicht jedesmal klappen. Und man sollte vor allem nicht so tun, als würde nur bei den deutschen Fans die Erwartung nach guten Ergebnissen steigen - das ist meinen Beobachtungen zufolge bei den Anhängern der anderen großen Skisprungnationen genauso.
Ein Wort noch zur Tournee: Da ist meine Erwartungshaltung trotz der guten Ergebnisse aus verschiedenen Gründen eher niedrig. Zum einen ist dies zwar der beste Saisonstart aus mannschaftlicher Sicht - aber es gab zumindest andere Jahre, in denen es nicht viel schlechter lief. In der Saison 2017/18 gelangen den Deutschen vor der Tournee immerhin auch 10 Podestplätze in 10 Wettkämpfen. Die Tournee gewannen sie nicht. In der Saison 1998/99 gelangen den Deutschen vor der Tournee 9 Podestplätze in 8 Wettkämpfen. Die Tournee gewannen sie nicht.
Und zum anderen braucht man für einen Tourneesieg eben nicht vier Springer, von denen jeder einmal vorn dabei ist, sondern einen Springer, der viermal vorn dabei ist. Und den sehe ich im Moment eben nicht. Daher erwarte ich bei der Tournee entweder Kraft oder Kobayashi ganz vorn - und eher greift noch Lanisek oder Lindvik in den Kampf um den Tourneesieg ein, als dass das einer der deutschen Springer schafft. Auch Granerud würde ich noch nicht abschreiben.
Wenn es ganz dumm läuft, gewinnt in Oberstdorf Geiger vor Kraft, während Wellinger 20. wird - und in Garmisch gewinnt dann Wellinger vor Kraft, während Geiger 20. wird. Alle Tourneechancen sind dann weg, alle deutschen Fans sind dann traurig - und alle anderen fragen: Was wollt ihr denn noch, ihr habt doch zweimal gewonnen? Und dann geht's wieder rund im Forum...