timeout4u schrieb:
A Disturbing Trend – Quitting?
@ timeout4u
Es wurde in diesem Thread schon mehrmals erwähnt: Das Aufgeben ist keine neue Begleiterscheinung. Frazier gab gegen Ali in Manila (nach der 14. Runde?) auf, Liston bei Liston-Ali I ebenfalls. Noch nicht erwähnt wurde Jess Willard. Bei seinem Kampf gegen Jack Dempsey 1919 kroch er nach der ersten Runde in seine Ecke zurück, mit drei gebrochenen Rippen, drei oder vier ausgeschlagenen Zähnen, einem Kieferbruch, das Jochbein (und wahrecheinlich das Nasenbein) eingeschlagen. Er war auch bereits ausgezählt worden, nur dass der Gong in den 10-count hinein geläutet wurde. Also ging Willard nochmals in den Ring, obwohl er keine Chance hatte und kassierte für zwei weitere Runden fürchterliche Prügel, bis er dann zur 4. nicht mehr antrat.
Trotzdem denke ich, dass man von einem Trend reden kann - oder vielleicht besser von einem Umdenken.
Willards Kampf gegen Dempsey würde heute vom Ringricher in der ersten Runde abgebrochen, und bei Ali-Frazier III und Liston-Ali I würde die Ecke wahrscheinlich beizeiten das Handtuch werfen.
Dieses Umdenken hat nicht nur im Boxsport stattgefunden. Bis in die Siebziger und Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts galt die Gesundheit des Menschen keineswegs als höchstes Gut. Das höchste Gut war der Erfolg. Wer in seinem Beruf eine leitende Position erreichte und wegen Stress, Angst, Alkohol und Zigaretten mit 45 oder 50 Jahren den ersten Herzinfarkt absolvierte, galt als erfolgreich. Wer als unqualifizerter Angestellter körperlich und geistig jung blieb und nach der Pensionierung ein erfülltes Alter erreichte, galt als Versager.
Dies hat sich nun geändert, vielleicht auch deshalb, weil wir heutzutage längere Zeit jung und leistungsfähig bleiben. Die geistige und körperliche Gesundheit gilt nun als notwendige Basis für den Erfolg, und ihrem Schutz wird die notwendige Bedeutung beigemessen. Luan Krasniqi etwa gab gegen Saleta in einem Alter auf, in dem ein Boxer früher seinen Leistungszenit bereits erreicht hatte. Dies ist nun drei Jahre her, und Luan wird wohl demnächst um einen Weltmeistertitel kämpfen - vielleicht gerade deshalb, weil er den 1. Saletafight sausen liess und so eine schwere Niederlage vermied.
Wir haben hier in der Schweiz mehrere grössere Tageszeitungen (naja, grösser für Schweizer Verhältnisse), die den Boxsport aus Prinzip ignorieren und nur melden, wenn wieder ein Boxer im Ring totgeschlagen wurde. Dabei wird nicht der eiserne Willen des Verlierers gelobt, der sich lieber totschlagen liess als aufzugeben; es wird nicht die lebensgefährliche Schlagkraft des Siegers hervorgehoben oder die Blindheit des Ringrichers und der Verliererecke, die gemütlich zuschauten, wie ein Fighter vor ihren Augen getötet wurde und die nicht auf die Idee kamen, das könne etwas mit ihnen zu tun haben. Nein, schuld ist für diese Zeitungen der Boxsport. Er hat den Boxer umgebracht.
Ich bin da anderer Meinung. Ich schaue jeden Boxkampf, den ich kriegen kann (und das sind wenig genug), und ich habe den Boxsport noch nie boxen sehen. Es waren immer zwei Boxer, zwei Ecken und ein Ringrichter beteiligt. Zusammen ergaben sie den Kampf und mithin den Sport.
Ich bin aber schon der Meinung, dass es im Boxen zu viele schwere Verletzungen und Todesfälle gibt - eben, weil es zu wenig Boxer gibt, die mitten im Kampf noch die Übersicht behalten und aufgeben, wenn es denn sein muss.
Denn eigentlich wäre dies ja der Job des Ringrichters oder des Trainers des gefährdeten Boxers. Und da liegt in meinen Augen der Hund begraben. Trainer und Ringrichter leben noch zum Teil im letzten oder vorletzten Jahrhundert. Sie denken, sie sind ausschliesslich dafür zuständig, dass ausreichend geprügelt wird. Sie wissen nicht, dass die beiden Kämpfer im Ring Menschen sind, die nach dem Kampf weiterleben wollen, und zwar gesund. Und sie begreifen nicht, dass es wichtigeres gibt als den momentanen Kampfrekord des Boxers - etwa die gesamte Karriere.
Wenn ein Boxer aufgibt, hat er also nicht nur seinen Job gemacht, sondern auch noch den des Trainers. Er sollte diese Pfeife augenblicklich in den Wind schiessen und sich einen Trainer suchen, der von seinem Job was versteht.
Na ja. Zurück zur Frage: Aufgabe - der neue Trend im Boxen?
Antwort: Ein Trend, ja. Aber nicht nur im Boxen. Unsere Gesellschaft ist klüger geworden.
P.S.: Mike Tyson ist in diesem Posting nicht berücksichtigt. Hunderte von Millionen hätten viel Geld dafür bezahlt, um zuzuschauen, wie Mike Tyson eine Klofrau verprügelt. Und diesselben Leute werden genau so viel Geld ausgeben, um zuzuschauen, wie eine Klofrau Mike Tyson verprügelt. Ich übrigens auch.