Ich frage mich, ob die "andere Länder, andere Sitten Crowd" (als ginge es um Essgewohnheiten und nicht um das Unterdrücken von Menschen) auch den Frauen oder Homosexuellen vor Ort so sagen würden, dass sie sich mal nicht so anstellen sollen, weil es wäre ja ihre Kultur, dass sie Menschen zweiter Klasse sind? Oder wird davon ausgegangen, dass sich die Schwulen selbst und freiwillig an die Baukräne hängen? Was für ein unterkomplexes Bild von Gesellschaft und Kultur kann man überhaupt haben?
Oder anders gefragt: Sklaverei ist in den USA historisch gewachsen, hat Tradition. Wer konnte es da wagen, das zu kritisieren?
Oder Antisemitismus ist eng mit der Nationenwerdung Deutschlands verbunden. Die Nürnberger Gesetze waren letztlich also auch einfach nur Ausdruck eines anderen kulturellen Verständnisses?
Dabei mache ich mir keine Illusionen. Wir sind hier in einem Sportforum und in diesem schreiben meist Männer eher 40+ als 30+. Hier einen Hort von Progressivität anzunehmen wäre albern. Daher wird es auch nicht selten kaum verhohlene Freude darüber sein, dass in anderen Teilen der Welt dieselbe noch in Ordnung ist. Kein Feminismus, keine Verschwulung, echte Männer usw. Die üblichen Diktaturversteher haben sich ja hier auch schon entsprechend geäußert (wenn auch bemüht verklausuliert). Ich kann mir den Genuss lebhaft vorstellen, mit der diese Leute diese WM konsumieren. Frohlockend bei jeder neuen Nachricht über abgenommene Regenbogensymbole und andere autoritäre Maßnahmen. Da kann man es Libs mal so richtig zeigen. Haha.
Und dann gibt es natürlich die Oberschlauen. Die, die die globalen Zusammenhänge eh besser verstehen als alle anderen und sich an jeder vermeintlichen und tatsächlichen Doppelmoral anderer ergötzen. Weil wer nicht 100% konsequent ist, darf sich keine Kritik erlauben amirite? Am Ende tragen die bei Demonstrationen gegen G20 noch Markenklamotten. Dadurch, dass andere nicht konsequent genug sind, braucht man das ja schließlich auch nicht zu sein, kann gewissenlos durchs Leben gehen und trotzdem immer recht haben. Dass dann anderen noch irgendein Moral Highground vorgeworfen wird, wäre traurig, wenn es nicht schon so absurd wäre.
Natürlich ist es letztlich egal, ob einzelne die WM gucken oder nicht und natürlich ist die ganze ******e von vorne bis hinten verlogen. Die resolute Härte aber, die in diesem Thread gegen die geäußert wird, die die WM nicht gucken, ist wohl nicht mehr als ein Schutzmechanismus. Den meisten Fans hier, auch denen, die vor fußballromantischer Schwülstigkeit nur so triefen, wird klar sein, dass es nicht sooo geil ist, diese WM zu glotzen, und da werden sie halt von denen unfreiwillig dran erinnert, die das nicht tun. Das ist im Grunde so, wenn man als Vegi von Fleischessern, die sich gerade das Schweinenackensteak für 2,50 Euro das Kilo auf den Grill werfen, schon prophylaktisch abgekanzelt wird (die entsprechenden Witze dazu sind bei Facebook oder hier im Forum nachzulesen). Aber aufgemerkt: Auch kein Fleisch essen rettet die Welt nicht.
Leben ist zwangsläufig widersprüchlich. Und alle sind irgendwie Teil davon, dass alles so ist, wie es ist. Das kann man so anerkennen und trotzdem für sich versuchen, zumindest Prioritäten zu setzen. Es ist liegt zwar in der Natur der Sache, dass man sich sein eigenes Verhalten so begründet, dass man es selbst für richtig und nachvollziehbar hält, aber etwas mehr Ehrlichkeit in der Hinsicht würde hier einigen nicht schlecht zu Gesicht stehen. Besser zumindest als sich fortwährend über irgendwelche "Boykottierer" lustig zu machen.