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Sehe ich etwas anders. Lewis ging, wie des öfteren, insbesondere mental nicht optimal in den Kampf. Er mag ein wenig an Schnelligkeit und Kondition eingebüßt haben, was man wie Du richtig feststellst nicht überbewerten sollte. Der Grund weshalb er zum Teil größere Probleme hatte, lag in erster Linie weniger an der falschen Taktik, als daran dass auch Lewis nicht unfehlbar war und in boxerischer Hinsicht in so einigen Bereichen bei weitem nicht Perfekt war.
Wer ist schon perfekt? Lewis war, was die Ausnutzung seiner Bandbreite angeht, wesentlich besser als Wladimir. Die größere Variabilität brachte eben auch boxerische Möglichkeiten mit sich, bestimmte Situationen zu lösen. Das kann Wladimir zwar auch, aber bei weitem nicht in dem Maße. Wladimir hat beidhändig einen heftigen Punch, im Prime-to-Prime-Vergleich auch Schlaghärten- und Dynamikvorteile der irrelevanten Sorte. Wenn beide Boxer richtig treffen, liegen die Gegner in der Regel. Wladimir ist schneller auf den Beinen, wobei Speed auch immer etwas überschätzt wird im Schwergewicht. Timing und Präzision sind wesentlich wichtiger.
Lewis bedeutsamste (aber nicht einzige) Vorteile liegen in der Tat im Bereich zwischen den Ohren. Mentale Härte bis hin zu überbordenden Arroganz, aber auch ein Maß an Ringintelligenz, wie es das seit Ali m.E. nicht mehr gegeben hat. Lewis kann ungemein gut adaptieren, Wladimir hat sich da verbessert, ist aber weit von Lewis weg. In der Annahme das Können von Lewis auf Wladimir durch Training übertragen zu können, lag auch der Hauptfehler von Steward in den ersten Monaten der Zusammenarbeit - m.E. der Hauptgrund für die Niederlage von Wladimir gegen Brewster I. Steward wollte, dass Wladimir den Kampf körperlich macht und die Stamina hat Wladimir im Gegensatz zu Lewis nie besessen. Ergebnis bekannt.
Vitali war boxerisch insgesamt gesehen nur unwesentlich schwächer als Lewis. Der entscheidende Punkt war aber neben der Cut-Anfälligkeit, in erster Linie der größere Unterschied in Sachen Schlagkraft, aber auch die physische Härte die bei Lewis etwas größer war als bei Vitali. Vitali war mental unheimlich stark, aber die physische Widerstandskraft war es eher nicht. Dafür habe ich schon immer Anzeichen gesehen.
Die härtesten Schläge von Lewis, wie z.b der Aufwärtshaken, landeten nicht voll und flush im Ziel. Sonst hätte Vitali das höchstwahrscheinlich nicht gestanden.
Der Aufwärtshaken von Lewis war voll im Ziel. Wenn Du mit geringerer physischer Harte meinst, dass Vitalis Körper nicht mitmachen konnte, was sein Geist noch vertrug, dann bin ich bei Dir. Vitali beherrscht technisch enorm viel und muss sich da keineswegs vor seinem Bruder verstecken - ich sehe ihn sogar unter Wettkampfbedingungen klar im Vorteil - was natürlich richtig ist, dass er vieles mal mehr, mal minder weit weg vom Lehrbuch ausführte. Der unorthodoxe Stil ist Vorteil und Fluch zugleich - unangemehm für die Gegner und für den eigenen Körper - hohe Verletzungsanfälligkeit inklusive.
Trotzdem, im Ring ist Vitali das komplettere Paket gegenüber Wladimir. Wenn man sieht, was Wladimir alles im Ring nicht schmeckt, dann ist Vitali Gift für Ihn (und Lewis erst Recht). Schon der Brot- und Butterboxer Pulev hat Wladimirs Komfortzone stark eingeschränkt. Ein Lewis und Vitali sind in der Lage einen eigenen Jab zu bringen, was Wladimir nicht schmeckt und sie sind vor allen Dingen in der Lage in Wladimirs Aktionen reinzuschlagen und körperlich zu drücken. Das alles kann Wladimir nicht ab. Wird Wladimir in den Rückwärtsgang gedrängt, dann ist er boxerisch hilflos. Ein Pulev kann das nicht ausnutzen - Lewis und Vitali (und viele weitere Boxer in der Geschichte des Schwergewichts) konnten das sehr wohl.
Prime-Vitali war zwar nicht der Schnellste - da hat Wladimir klar Vorteile, er war auch nicht der Beweglichste - muss er aber auch nicht sein. Sanders war das auch nicht. Bewegungsökonomisch waren Sanders und Vitali eine Wucht. Alleine Vitalis aus der Linie gehen und Kontern würde Wladimir vor größte Probleme stellen, dazu noch seine für einen Schwergewichtler bemerkenswerte Workrate - da braucht es keinen Megapunch, den Vitali in der Tat nie hatte, um Wladimir vor zu große Probleme zu stellen. Pulev war in der Lage durch körperbetontes Arbeiten am Mann Wladimir relativ deutlich zu ärgern - die ganze Ringertaktik hat nicht funktioniert, Vitali und Lewis können da noch viel mehr auf das Tableau bringen - dem ist Wladimir normalerweise nicht gewachsen.
Das ist natürlich unmöglich. Die 90er Jahre waren was die Dichte an Qualität angeht die beste Ära aller Zeiten. Lewis hat die aller besten Leute geboxt und jeden mit den er mal im Ring stand besiegt. Das ist heute unmöglich zu toppen.
Ja, wobei man - wie hier schon geschrieben wurde - einschränkend anmerken muss, dass Lewis die vom Erfolg her besten Gegner (Tyson, Holyfield) erst in deren Past-Prime-Phase geboxt hat.
Boxerisch war Wladimir in einigen Bereichen wesentlich besser als Lewis. Insbesondere was die Beinarbeit, den Jab und die Kampfesführung anbelangt hat er Lewis einiges voraus. Als Gesamtpaket sehe ich ihn dennoch etwas schwächer, was hauptsächlich an der eher schwachen physischen und der fehlenden mentalen Härte liegt. Das ist es, weshalb er sich selbst immer limitieren muss und boxerisch schon mal schwächer erscheint als er in Wirklichkeit ist. In einem direkten Duell würde Wladimir mit höchster Wahrscheinlichkeit den kürzeren ziehen. Das würde allerdings nur zu einem verhältnismäßig geringen Anteil an seinen boxerischen Defiziten liegen.
Die auf ATG-Niveau eher durchschnittliche physische und mentale Härte sind sein Hauptproblem und damit auch der Grund, warum er gegen einige Größen der Boxgeschichte im Schwergewicht wohl zu große Probleme bekommen würde. Beispiel: Das er schneller auf den Beinen war als Lewis und auch die größere Schlagdynamik hat, wird irrelevant, wenn Lewis den Kampf körperlich macht und Wladimir erdrückt.
Das ist aber wenn überhaupt, allein mit dem großen Unterschied im mentalen Bereich zu begründen. Gesamtpaket ist in dem Fall so ein schwammiger Begriff, weil gerade bei den beiden der Gegner eine Rolle spielt. Vitali sieht bei entsprechendem Widerstand deutlich souveräner aus und kann sich auch "Schlachten" liefern. Dass ihn das zum besseren Gesamtpaket macht, würde ich aber nicht behaupten. Boxerisch war Wladimir der wesentlich bessere, auch wenn Vitali unzweifelhaft ein sehr guter Boxer war. Dafür war Vitali eine Kämpfernatur. Gegen die Mehrzahl der Gegner aber, hätten Vitalis Defizite eine größere bzw. Kampfentscheidendere Rolle gespielt als Wladimirs Defizite. Daher denke ich, muss man Wladimir hier vorne sehen.
Letztlich liegen wir nicht weit auseinander, aber eben doch so weit, dass wir im Endergebnis zu anderen Bewertungen kommen (siehe oben).