Die geheime Taktik von Joachim Löw
Auf der Heimfahrt nach dem Achtelfinale sprechen Joachim Löw und Hansi Flick im Bus über das deutsche Spiel, die Innenverteidiger-Knappheit und Freistoßtricks. Wir drucken exklusiv, wie das Gespräch wahrscheinlich ablief.
Nacht in Brasilien. Die deutsche Mannschaft auf der Heimfahrt vom Spiel gegen Algerien. Die Klimaanlage surrt leise, ganz vorne im Bus sitzt Bundestrainer Joachim Löw und stiert in die tropische Dunkelheit. Sein Co-Trainer Hansi Flick auf dem Platz neben ihm ist eingeschlafen.
LÖW: Hansi. Hansi, wach auf. Hansi.
Flick wacht auf, reibt sich die Augen.
LÖW: Hansi, ich hab nachgedacht. Ich glaube, wir haben ein Problem.
FLICK (müde): Aha.
LÖW: Der Shkodran kann nicht mehr spielen.
Muskelbündelriss, sagt Mull.
FLICK (matt): Aha.
LÖW: Hansi, verstehst du nicht? Shkodran weg, Hummels krank – wir haben nur noch drei Innenverteidiger im Kader! Drei!
FLICK (erschöpft): Jogi, lass uns morgen darüber reden ...
LÖW: Nein Hansi, was sollen wir machen? Nur drei Innenverteidiger! Wir brauchen doch vier! Vier! Das hatten wir doch besprochen! Hansi!
FLICK (setzt sich aufrecht hin und reibt sich den Schlaf aus den Augen): Ich weiß, dass wir das besprochen haben.
LÖW: Und jetzt die Franzosen, Hansi! Da brauchen wir Robustheit und Zweikampfstärke.
FLICK: Wir haben doch noch den Ginter. Der kann Manndecker, der hat in Freiburg Innenverteidigung gespielt.
LÖW (krempelt sich hektisch die Ärmel hoch): Ginter ist ein gelernter Mittelfeldspieler, den jemand mal zum Innenverteidiger umgeschult hat. Ich will aber gelernte Innenverteidiger, die Außenverteidiger spielen. Nur so rum macht es Sinn! Nicht andersrum!
FLICK (vorsichtig): Wir könnten es doch auch damit probieren – nur ein Vorschlag –, einen Außenverteidiger Außenverteidiger spielen zu lassen. Der Philipp ...
LÖW: Nein! Damit rechnen doch alle! Bei einer Weltmeisterschaft muss man innovativ denken! Nachhaltig innovativ! Van Gaal spielt 5-3-2 mit Dirk Kuyt links hinten! Ich will meine vier Innenverteidiger! Zweikampfstärke! Robustheit! Der Philipp ist ein Sechser! Ein abkippender Sechser! Keiner kippt so ab wie Philipp! Keiner! (schnappt nach Luft). Ich hab’ eine Idee – hol mir den Miro.
Flick steht auf und verschwindet im hinteren Teil des Busses. Kurz darauf kommt er mit Miroslav Klose wieder.
LÖW: Miro, wie lange bist du jetzt schon Stürmer?
KLOSE: Seit 25, 30 Jahren, würde ich sagen.
LÖW: Dann weißt du doch sehr gut, wie Innenverteidiger ticken, oder? Zweikampfstärke, Robustheit, und so weiter.
KLOSE: Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Trainer.
LÖW: Miro, ich frage dich frei heraus: Willst du gegen Frankreich von Anfang an spielen oder nicht?
KLOSE: Als Spieler will man immer spielen, Trainer.
LÖW (feierlich): Dann verspreche ich dir hiermit, dass du am Freitag anfängst. Als Innenverteidiger neben Per! Boateng rückt nach außen. Es gibt viele Innenverteidiger, die früher Stürmer waren! Van Buyten! Sverrisson! Alles Mittelstürmer gewesen! Du kannst das! Die Vier muss stehen!
KLOSE: Aber Trainer ... was ist mit meinem großen Ziel? Sie wissen schon, mehr WM-Tore als Ronaldo? Der Rekord? Unsterblichkeit?
LÖW (dreht den Kopf zum Fenster und schaut wieder ins Dunkle. Seufzt): Unsterblich wird man nicht mit Toren, Miroslav, sondern mit Innovationen. In 100 Jahren interessiert niemanden mehr, wer welches Tor geschossen und welchen Titel gewonnen hat. 2:1, 4:0, 4:4 – alles nur Zahlen. Ballack, Balotelli, Algerien – alles nur Namen. Am Ende zählt nur, wer den Fußball vorangebracht hat.
"Du und ich, wir lassen den Fußball von morgen spielen. Hansi!"
Klose wartet, aber Löw blickt weiter aus dem Fenster, im Halbdunkel scheinen sich die Lippen des Bundestrainers zu bewegen. Bevor Klose zurück auf seinen Platz geht, schickt er einen flehenden Blick zu Hansi Flick, der keine Miene verzieht. Danach sitzen Trainer und Co-Trainer eine Weile schweigend nebeneinander, Löw lächelt vor sich hin, Flick rutscht unruhig auf seinem Platz hin und her.
FLICK: Jogi, ich hab auch noch eine Idee, wegen der Freistöße ...
LÖW (gut gelaunt): Gut, dass du mich darauf ansprichst. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich denke, die Antwort ist sechs.
FLICK (öffnet den Mund, schließt ihn dann aber wieder).
LÖW: Sieh mal, bisher springen bei unseren Freistößen immer drei oder vier Spieler über den Ball, bevor wir schießen. Das klappt einfach nicht, zu wenig innovativ. Wenn das aber sechs Spieler machen – damit rechnet keiner. Erst Kroos, dann Müller, Özil, Götze, Schweinsteiger und Lahm, dann kommt Kroos noch mal und haut das Ding rein. Oder in die Mauer, is ja egal. Die vier Innenverteidiger bleiben hinten und sichern ab.
FLICK: Klose könnte uns bei Freistößen aber auch vorne helfen, er hat da schon einige Tore ...
LÖW: ... den Stürmer Miroslav Klose gibt es nicht mehr. Vergiss ihn. Genauso wie Deutschland den Außenverteidiger Philipp Lahm vergessen muss. Die Doppelsechs, 4-5-1, direkt getretene Freistöße, Anführer, Halbzeitansprachen, Ecken, Fouls, Einwürfe – alles Quatsch, Fußball von gestern. Du und ich, wir lassen den Fußball von morgen spielen. Hansi! Die Leute verstehen es nur noch nicht. Es ist wie mit Galileo! Und Darwin! Hansi! Wir sind unserer Zeit voraus! Sollen sie uns dafür doch auf den Scheiterhaufen werfen!
FLICK (halblaut): Das werden sie auch. Das werden sie auch ...
LÖW (hört nicht zu): Noch eine Idee: Vielleicht spielen wir gegen Frankreich nur mit zehn Mann!? Damit bringen wir mehr Platz ins Mittelfeld ... die Nahtstellen, Hansi, vergiss nicht die Nahtstellen! Und auf den Flügeln schaffen wir Unterzahlsituationen! Eins gegen drei! Zwei gegen fünf! Das traut sich nicht mal Guardiola, das ist die Zukunft! Der Deschamps wird schön blöde gucken! (kichert und reibt sich die Hände, wird dann aber wieder ernst) Überzahlsituationen kann jeder. Die Unterzahl von heute ist die Überzahl von morgen! Oh, das ist gut, das schreib’ ich mir auf, für die nächste Pressekonferenz: „Die Unterzahl von heute ist die Überzahl von morgen.“ Die Typen von der „Sport Bild“ verstehen das nie. Hast Du einen Stift?
FLICK (schiebt seine Aktentasche unauffällig mit dem Fuß unter den Sitz): Leider nein. Du Jogi, guck mal, wir sind zu Hause. Es wird schon hell.
Der Bus hält vor dem Campo Bahia, der Fahrer stellt den Motor ab, die Klimaanlage verstummt. Löw und Flick klettern langsam aus dem Bus und strecken vorsichtig ihre Beine. Der Horizont hinter den Wipfeln der Palmen färbt sich in einem blassen Rot, die Wellen am Strand vor dem WM-Quartier rauschen, irgendwo schreit ein exotischer Vogel.
FLICK: Lass uns morgen weiterreden, Jogi. Das Spiel war sehr anstrengend, du musst dich ausruhen.
LÖW: Du hast recht. Dann denken wir über das Halbfinale gegen Brasilien nach. Du Hansi, ich glaub, ich hab mich bei Hummels angesteckt. Fieber. Fühl mal.
FLICK (legt eine Hand auf Löws Stirn): Nein, fühlt sich eigentlich an wie immer.
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