Hier noch der zweite Teil meiner Gegner-Einschätzung vor dem Halbfinale gegen
Norwegen am heutigen Freitag um 18.30 Uhr.
Taktik:
Norwegen spielt in der Defensive in der Regel mit einer sehr konservativen und engen 6-0 Deckung, die an der eigenen Sechs-Meter-Linie zu kleben scheint. Druck auf den gegnerischen Spielmacher? Fehlanzeige. Bis zur Neun-Meter-Linie darf der Gegner weitestgehend schalten und walten wie er will. Erst dann packt die norwegische Abwehr zu. Norwegen erschwert dem Gegner mit dieser strengen Ordnung Anspiele an den Kreis und auf die Außen ungemein. Dafür nehmen die Skandinavier eine hohe Zahl an Rückraumtreffern in Kauf - weil man Distanzschützen für gewöhnlich gewähren lässt. In der Rückwärtsbewegung agiert Norwegen extrem clever und abgezockt, lässt den Gegner immer wieder auflaufen und provoziert so Stürmerfouls. Der Spielfluss des Gegners wird so unterbrochen, bis Norwegen sich in der Defensive wieder sortiert hat.
Norwegen spielt keinen Tempohandball, sondern baut das Spiel über Sagosen gedudig auf. Natürlich fahren die Norweger auch mal einen schnellen Gegenstoß, in der Regel werden die Angriffe aber mit Geduld, Plan und viel Variabilität vorgetragen. Die Zahl der technischen Fehler hält Norwegen durch sein besonnenes Spiel in Grenzen. Lediglich Hansen ist bei der einen oder anderen Einzelaktion immer mal wieder für einen unnötigen Turnover gut. Die Trefferquote leidet unter dem vergleichsweisen niedrigen Tempo nicht, weil Norwegen extrem variabel ist. Und das ohne große individuelle Ausnahmekönner in seinen Reihen zu haben. Jondal ist kein Timur Dibirov, Tonnesen ist kein Mikkel Hansen und Hykkerud ist kein Marino Maric. Aber das Kollektiv wirkt eingespielt, harmoniert prächtig und ist über den Rückraum, die Außen und den Kreis gleichermaßen zu Toren fähig. Im Vergleich zu den Kroaten sieht das Spiel der Norweger technisch bei weitem nicht so elegant aus. Das wirkt selten fancy oder spektakulär - aber es funktioniert. Und das playbook von Trainer Christian Berge liefert den Spielern - zum Teil unkonventionelle - Lösungen, wenn der Gegner das erste Angriffsschema durchschaut hat. Da stehen plötzlich auch mal Spieler am Kreis frei, die der verdutzte Gegner dort garantiert nicht erwartet hat. Und zwar nicht zufällig - das Spiel der Norweger hat Hand und Fuß. Das Herz ist Sagosen.
Die ersten 20 Minuten aus dem folgenden Testspiel gegen Frankreich können imo als Blaupause durchgehen, wie das Spiel der Norweger funktioniert:
Schwächen Norwegens
1. Anfälligkeit für Rückraumshooter: Es ist schon angeklungen, dass die Norweger die Rückraumschützen des Gegners für gewöhnlich gewähren lassen. Bis an die Neun-Meter-Linie ist die Gegenwehr der Skandinavier überschaubar. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum Norwegen gegen Mazedonien und Island so schlecht ausgesehen hat. Wenn du Weltklasse-Shooter wie Kiril Lazarov (elf Tore gegen Norwegen) oder Palmarsson gewähren lässt, weil du ums Verrecken den Kreis nicht entblößen willst, fallen die Gegentore halt auch mal wie reife Früchte.
2. Schlafmützige Anfangsphase: Man kann es auch positiv formulieren und sagen, dass die norwegischen Comeback Kids mit zunehmender Spieldauer immer besser ins Rollen kommen. Aber sowohl gegen Weißrussland, Kroatien, Polen und Frankreich lagen die Norweger zu Beginn (zum Teil deutlich) zurück und bissen sich dann erst wieder zurück ins Spiel. Ob das gegen Deutschland auch funktioniert?
3. Mentale Schwäche: Ich bin nicht sicher, ob der Punkt wirklich valide ist. Aber als Norwegen nach Halbzeitführung gegen Island plötzlich zurücklag, ging bei der Mannschaft minutenlang gar nichts mehr. Das Team wirkte auf mich sehr perplex und verunsichert, teilweise sogar hilflos. Kann sein, dass das nur ein Ausrutscher war oder ich das falsch wahrgenommen habe, aber vielleicht ist die Mannschaft um den jungen Spielmacher Sagosen in Drucksituation doch noch nicht komplett gefestigt.
4. Torwartposition: Ich hab mir jetzt ein Spiel mit Beteiligung von Espen Christensen angesehen und muss sagen: Der ist eine Klasse schlechter als Wolff. Mindestens.
5. Bank: Insbesondere auf Rechtsaußen hat Norwegen niemanden, der Bjornsen auch nur ansatzweise ersetzen könnte. Aber auch auf Rückraum links ist die Personaldecke bei den Skandinaviern dünn.
Tipps für die Deutschen
Klingt verdammt eingebildet, Tipps zu verteilen, aber hier trotzdem mal meine subjektive Sicht auf die Dinge, auf die es gegen Norwegen ankommen wird.
1. Sagosen rausnehmen: Norwegen funktioniert zwar als harmonierendes Kollektiv, aber ich denke, das Herz der Mannschaft ist dennoch Sagosen. Wenn du dessen Kreise störst, ihm nicht den Raum gibst, die Bälle zu verteilen und Angriffe zu initiieren, könnte das den Norwegern richtig wehtun.
2. Speed kills: Wenn du gegen so eine Schildkrötendeckung wie die von Norwegen überhaupt die Chance haben willst, Lücken zu reißen oder den Kreis/die Außen einzusetzen, geht das nur über das Tempo. Fintieren, Täuschen und Passen in hoher Geschwindigeit - der norwegische Block muss in Bewegung gebracht werden. Und wenn du den Gegner auseinandergezogen hast mit Macht in die Lücken rein! Oder auf die Außen. Oder an den Kreis. Hauptsache der Ball geht ins Tor. Das hört sich banal an, funktioniert aber natürlich nur mit einer hohen Passgenauigkeit und technischer Sicherheit. Ein Turnover-Festival wirst du dir gegen Norwegen jedenfalls nicht leisten können.
3. Augen auf beim Gegenstoß: Ich hab's weiter oben schon geschrieben. Norwegen unterbindet den Gegenstoß extrem oft dadurch, dass sie unvermittelt Abstoppen und sich über den Haufen rennen lassen. Im besten Fall (für Norwegen) gibt es Stürmerfoul. Im schlimmsten Fall (für Norwegen) hat man "nur" den Gegenstoß gestoppt. Liegt an den Schiris bei so etwas genau hinzuschauen.
4. Die Quote aus dem Rückraum muss stimmen: Die Abwehr der Norweger wird nicht immer auseinandergespielt werden können. Deshalb muss es zumindest in 50-60 Prozent der Fälle klingeln, wenn Würfe aus dem Rückraum genommen werden. Herr Wiede, Herr Fäth, übernehmen sie. Verdammt schade, dass Dissinger nicht mehr dabei ist. Den Zwei-Meter-Mann hätte man gegen Norwegen unheimlich gut gebrauchen können. Es ist die Chance für Julius Kühn zu zeigen, warum er hier ist! Der könnte zum Helden werden.
5. Den Angriff des Gegners entschlüsseln: Sigurdsson wird jedes Spiel der Norweger vermutlich genau analysiert und den Jungs gesagt haben, worauf sie sich einstellen müssen. Berge wird sich für das Spiel gegen Deutschland deshalb womöglich ein paar Überraschungen und neue Spielzüge einfallen lassen. Es wird an Sigurdsson liegen, den Plan des Gegners schnell zu entschlüsseln und den Jungs die Lösung für das Problem an die Hand zu geben. Auscoachen heisst das glaub ich heute.
6. Geht's raus und habt Spaß. Ihr habt schon mehr erreicht, als euch warscheinlich jeder Handball-Fan in Deutschland zugetraut hat. Finale wäre geil, aber die EM war eh schon super.