Hmm, ich frage mich, warum so viele Nutzer so schnell mit ihren Urteilen bei der Hand sind. Einige sehen Vitali schon als shot an, er soll über Nacht gealtert sein etc.
Für mich war das ein Einerseits-Andererseits-Kampf.
Einerseits lief der Kampf genauso, wie man es vorhersehen konnte, anderseits sind viele Betrachter enttäuscht, weil es mal keinen KO gab.
Einerseits hat Vitali seinen Kampf ganz eindeutig gewonnen, lediglich ein Punktrichter gab Johnson eine Runde und muss sich dabei schon fast fragen lassen, welche Runde das gewesen sein soll. Anderseits hat Johnson Vitali überraschend so lächerlich gemacht, dass der gute David Haye nun plötzlich gute Chancen hat, die ihm vorher so mancher nicht einräumen wollte.
Ich sehe das Ganze etwas anders. Vitali ist ein Top-Konterboxer, der beste des derzeitigen Schwergewichts für mich und das gilt immer noch. Das Dumme ist, dass ein Konterboxer angegriffen werden muss, um kontern zu können. Das hat Johnson kaum getan. Johnson hat vor dem Kampf und unzulässigerweise auch während des Kampfes jede Menge Provokationen in Richtung Vitali geschleudert, worauf der durchaus jähzornige Vitali aber zum Leidwesen Johnsons erst in der letzten Runde eingestiegen ist. In Wahrheit ist er mit einer ganz einfachen und schon oft im Boxsport gezeigten Taktik in den Kampf gegangen: Den Gegner sich müde schlagen lassen, dabei Treffer vermeiden und dann in der zweiten Hälfte des Kampfes die entscheidenen Punkte holen oder den ermatteten Gegner zur Aufgabe zwingen. Gute Idee und gerade bei den Klitschkos hält sich nun hartnäckig das Gerücht, sie hätten eine schwache Kondition und würden früher oder später überpacen. Hätte sich der gute Johnson und sein Team die Vitali-Kämpfe gegen Arreola und Peter genau angeschaut, hätte ihnen eigentlich klar sein müssen, dass diese Taktik wohl schwerlich aufgehen würde. Ein weiteres Gerücht, was sich mit nicht totzukriegender Hartnäckigkeit hält, ist das Bild von Vitali als Knockouter. Auch weiterhin und das hat der Kampf noch einmal deutlich gezeigt, bleibt Vitali ein Zermürber, der allerdings zum Zermürben auch über Runden viele Hände präzise im Ziel haben muss. Das und nur dass war die einzige taktisch anerkennenswerte Leistung von Johnson in diesem Kampf. Mit teils fragwürdigen Methoden hat er Treffer durch Vitali vermeiden können, wohl möglich ist er jetzt per Du mit Vitalis Kniescheibe - die Unsitte des Abtauchens (besser: Tieftauchens), Abdrehens, weit über die Seile lehnens etc. hat mit Boxen nur noch wenig zu tun. Ansonsten war Johnson ein Boxer der lediglich guten Ansätze, die wie es timeout4u so treffend beschrieb sicherlich mit seiner geringen Amateur-Erfahrung und seiner Sparringstätigkeit zusammen hängen. Mit 30 ist er eigentlich schon zu alt, aber für mich ist da in Teilen ein großes Talent zu erkennen. Trotzdem die Probleme waren überdeutlich zu sehen. Ein effektive Defensive ist nichts wert, wenn die erforderliche Offensive nicht oder nur sehr wenig stattfindet. Man konnte sehen, dass Johnsons Jab sehr gut ist, er hat ihn viel zu selten gebracht, man konnte sehen, das Johnson sehr gut einstecken kann, ausgeteilt hat er viel zu wenig - so gewinnt man keinen Kampf, schon gar nicht, wenn man nicht über eine One-Punch-Knockout-Power verfügt. So war außer Trashtalking und jeder Menge Stinkerei nicht viel Zählbares zu sehen.
Und Vitali? Wie ich schon vorher schrieb, hat Vitali Probleme mit schnellen beweglichen Leuten, Parallelen zum Byrd-Kampf waren da. Daher ist es aus meiner Sicht falsch, wenn nun behauptet wird, Vitali wäre shot, plötzlich gealtert etc. - Vitalis war gestern unpräzise in seinen Schlägen auch und gerade weil er sich gestern sehr schwer mit einem beweglichen Ziel getan hat. Wenn er den Kampf machen soll und der Gegner fast nur ausweicht und sich abduckt etc., dann stimmt seine Beinarbeit nicht. Das ist erstaunlich, wo doch seine Beinarbeit so hervorragend funktioniert, wenn er sich nach hinten oder seitlich von einem angreifenden Gegner löst und dabei seine Konter schlägt. Das sind eben zwei verschiedene Paar Schuhe. Diese Schwäche ist aber nicht neu und auch nicht altersbedingt, sie war schon früher da, man braucht sich nur mal den Bean- und den Donald-Kampf anzuschauen. Relativ schlechtes Distanzgefühl im Angriff, relativ schlechte Beinarbeit bei Angriffen, immer wieder falsches Stehen zum Gegner und dementsprechend viele Luftlöcher und eindimensionales Schlagrepertoire, obwohl Fritz Sdunek genau das in den Rundenpausen immer wieder angesprochen hat. Einerseits also eine absolut dominierende Leistung von Vitali ohne Nachlassen in den hinteren Runden und andererseits die bekannten Schwächen in der Offensive. Phasenweise sah Vitali ähnlich hilflos aus wie damals Wladimir gegen Rahman, wobei Vitali es immerhin immer wieder versucht hat. Sachliche Kritik ist natürlich berechtigt. Es mag sogar sein, dass Vitali und sein Team absichtlich Johnson ausgesucht haben, um noch mal echte Kampferfahrungen gegen einen beweglichen Boxer zu sammeln, bis es dann doch noch gegen Haye geht. Das wäre ein so dummer Schritt nicht, insbesondere weil man noch einmal genug Anschauungsmaterial für eine Vorbereitung auf Haye bekommt (Womit natürlich keine Gleichsetzung von Johnson und Haye einhergeht).
Und Haye? Der wird jetzt sicherlich das Maul weit aufreissen und um so mehr davon überzeugt sein, Vitali schlagen zu können. Nur: Johnson hat Vitali nicht geschlagen, er hat nur vermieden und nichts zu Stande gebracht. Würde Haye eine ähnliche Taktik wählen, käme er über die Runden, den Kampf würde er trotzdem verlieren. Würde er mehr offensive Aktionen zeigen und Vitali attackieren, dann wäre er wieder im Vitali-Land wo die fiesen Haken aus allen Winkeln als Konter einschlagen. So viel weiter ist Haye m.E. nicht nach diesem Kampf. Einen Kampf gewinnt man keinesfalls mit einer Vermeidungsstrategie, man muss selber Treffer setzen und natürlich ist Vitali zu treffen. Je offensiver Haye agiert, desto besser kann Vitali seinen Stil durchbringen und auf Vitalis Konter wartet immer noch Hayes hängende Linke, weiterhin Hayes größte Baustelle bei einem Kampf gegen die Klitschkos und ob er alles wegsteckt, was Johnson mit einem Lächeln, Nicken oder Kopfschütteln quittiert hat, muss sich auch erst noch zeigen. Vitali ist nicht Valuev. Mit der Johnson-Taktik würde er den Kampf nicht gewinnen - das war vorher klar und daran hat sich mit dem gestrigen Kampf gar nichts geändert. Vitali hat gestern noch mal gezeigt oder gezeigt bekommen, wo seine Schwächen liegen, allen hier zu lesenden Buhrufen und allem Shot-Geschrei zum trotz, ist aber immer noch kein Gegner in Sicht, der diese Schwächen auch ausnützen kann. Johnson konnte es nicht. Er konnte Vitali wie erwartet nur ärgern, obwohl ungenutztes Potenzial für deutlich mehr zu erkennen war.
Roberts