Nach der Meisterschaft 2017 folgte letzte Saison eine Implosion. „Wieder einmal“ kann man sagen, auch nach der Meistersaison 2015 folgte eine Katastrophensaison. Vergangene Saison war es zugegeben nicht so schlimm wie in Mourinhos berühmt-berüchtigter „3rd season“, aber für einen Meister war Chelseas Spielzeit 2017/18 sowohl spielerisch als auch ergebnistechnisch eine große Enttäuschung. Niederlagen gegen Burnley, West Ham, Watford, Bournemouth, Crystal Palace und Newcastle waren an sich schon zu viel; hinzukamen aber noch weitere vier aus Spielen gegen die anderen Top-6-Vereine. Damit war man nicht nur aus dem Rennen um den Titel schon nach wenigen Wochen draußen, sondern auch im Kampf um die Champions-League-Plätze bereits Anfang März gescheitert. Rechnerisch wäre eine Qualifikation noch drinnen gewesen – und man hätte dies noch in eigener Hand gehabt –, doch war die Stimmung im Team so angespannt, dass jeden Tag mit einer Trennung von Antonio Conte gerechnet wurde, die jedoch erst im Sommer erfolgte. Conte wurde entsprechend entlassen und Maurizio Sarri übernahm nach ewigen Verhandlungen mit Neapel Mitte Juli das Ruder.
Unter Sarri soll nun alles besser werden: offensiver Fußball statt defensivem Pragmatismus, Viererkette statt Dreierkette, Sarriball statt Sufferball. Spiele wie das 0:1 auswärts gegen Manchester City soll es unter dem neuen Trainer nicht mehr geben, stattdessen schnelle Ballstafetten und ein Team, das ständig als geschlossene Einheit angreift. Davon und aber auch davon, dass man noch weit davon entfernt ist, so zu spielen, hat man in der Vorbereitung bereits einiges gesehen. Realistisch gesehen wird man mehr Schatten als Licht erwarten müssen, selbst Guardiolas letztjähriges Meisterteam benötigte ein Jahr und drei Transferfenster, bis das Team und die Spielweise standen. Sarris Art, Fußball spielen zu lassen, ist ohne Frage ein radikaler Schritt zu Contes taktischer Ausrichtung, vor allem aber ist die Entscheidung, Sarri zu holen, ein radikaler und vermutlich notwendiger Schritt gewesen, Chelsea für die nächsten Jahre neu auszurichten. Fast alle Trainer der letzten 15 Jahre waren (defensive) Pragmatiker (Ranieri, Mourinho, Hiddink, Benitez, Di Matteo, Mourinho 2.0, Hiddink 2.0, Conte), die Revoluzzer waren nur wenige (Scolari, Villas-Boas) und vor allem überhaupt nicht erfolgreich bei Chelsea. Natürlich wird Sarri seine eigene Geschichte schreiben müssen, als Fan von Chelsea blickt man aber nicht nur euphorisch gespannt in die neue Spielzeit, sondern eben auch sehr vorsichtig. Die Fangemeinschaft fragt sich seit Sarris Ankunft, ob ihm genug 1.) Zeit gegeben wird, seine Ideen umzusetzen und 2.) ob die Vereinsführung tief in die Tasche greifen wird, um Sarris Wunschspieler zu holen.
Letzteres scheint bisher zumindest der Fall zu sein: Mit Jorginho holte man schon am Tag der Sarri-Bekanntgabe dessen Mittelfeld-Mastermind aus Neapel-Zeiten, mit Mateo Kovacic wurde ein weiterer Mittelfeldspieler ausgeliehen, der theoretisch perfekt in Sarris System passen sollte und mit Kepa Arrizabalaga verstärkte man den Kader um den nun teuersten Torhüter der Fußballgeschichte. Quasi einen weiteren Neuzugang stellt noch Ruben Loftus-Cheek dar, der letzte Saison leihweise bei Crystal Palace seinen Durchbruch im Profibereich feierte (und dessen Leistungen ihm eine WM-Teilnahme und dort sogar Spielminuten einbrachten) und der nun ins Chelsea-Team integriert werden soll. Damit wäre er nach Andreas Christensen der zweite ehemalige Chelsea-Jugendspieler innerhalb von zwei Jahren, der in der ersten Mannschaft Fuß fassen würde – so etwas ist man bei Chelsea gar nicht gewöhnt
.
Auf der Seite der namhaften Abgänge hat man nur Courtois zu verbuchen. Der Belgier war die vergangenen vier Jahre die Nummer 1 im blauen Stadtteil Londons, doch wurden seine Leistungen mit zunehmender Zeit schlechter. Während er sich in der Meistersaison 2014/15 praktisch keine Fehler leistete, war er 2015/16 selbst nach Mourinhos Entlassung
einer der schlechtesten Spieler, in Contes Meistersaison hatte er kaum etwas zu tun und wurde
von Chelseas Abwehr beschützt und letzte Saison war er der mit Abstand
schlechteste Keeper der Top-6-Teams. Sein Abgang wird anfangs allerdings definitiv ein Verlust sein, mit Kepa hat man aber einen Nachfolger für die nächsten sieben Jahre verpflichtet, der großes Potenzial verspricht und besser ins zukünftige System passen sollte, als Courtois es getan hätte.
Gerüchteweise steht Bakayoko kurz vor eine Leihe zu Milan (good riddance!), Drinkwater und Moses wurden am Mittwochabend ebenfalls mit Leihen in Verbindung gebracht, nach jetzigem Stand werden sie aber zumindest innerhalb Englands nicht verliehen werden. Kurt Zouma schien am späten Donnerstagnachmittag noch per Leihe auf dem Weg zu Everton, doch wurde nichts Offizielles verkündet. Weiters soll noch entweder Batshuayi oder Abraham verliehen werden.
Als potenzieller Zugang wurde bis zum Ende des Transferfensters Fekir gehandelt, dieser Transfer soll jedoch an Lyons Ablöseforderungen im Bereich von 80 Millionen Euro gescheitert sein.
Somit lässt sich zum 2018/19er Kader festhalten:
Die Abwehr um Azpilicueta als einen der besten fünf Verteidiger der Welt sollte auch kommende Saison wie ein Bollwerk stehen; die Kadertiefe und -qualität sind in Form von Azpilicueta, David Luiz, Rüdiger, Christensen, Cahill, Marcos Alonso, Emerson, Zappacosta und Ampadu einfach überragend und im Premier-League-Vergleich mit das Beste, was die Liga zu bieten hat. Dass die Umstellung von Dreier- auf Viererkette nicht reibungslos verlaufen wird, ist anzunehmen, aber bei dem Spielermaterial sollte dies kein Problem von Dauer sein. Mit Kepa und Caballero hat mein auch ein gutes Torhütergespann, wobei Kepa – wie oben bereits angesprochen – sicher eine Eingewöhngsphase brauchen wird.
Im zentralen Mittelfeld werden voraussichtlich im 4-3-3 Kante, Jorginho und Kovacic auflaufen. Dazu kann man von der Bank noch Fabregas, Barkley, Loftus-Cheek und Danny Drinkwater bringen. Auf den Flügeln hat man Hazard, Willian, Pedro, Moses und Supertalent Hudson-Odoi. Ein Upgrade gegenüber Willian und Pedro wäre diesen Sommer nötig gewesen, aber vielleicht kommt ja Hudson-Odoi zu seinen Einsätzen. Nach seiner starken Vorbereitung hätte er sich jedenfalls verdient.
Der Sturm ist leider das Sorgenkind des Teams. Morata, Giroud, Batshuayi und Abraham sind (momentan noch) die Stürmer im Kader, von den beiden letzteren scheint allerdings noch einer verliehen zu werden. Giroud ist von diesen vier Spielern der beste Torjäger, aber leider auch der älteste und als Stammkraft qualitativ eines Top-Teams nicht würdig, so mannschaftsdienlich und konstant er auch spielt und seine Buden macht. Morata war nach großartigem Beginn seiner Chelsea-Karriere ein Totalausfall. Um zu verdeutlichen, in welchen Fernando-Torres-Sphären sich Morata letzte Saison bewegte, sei kurz auf vier Fakten verwiesen:
- Morata schoss in seinen ersten sechs Spielen mehr Tore (6 Tore; davon ein Hattrick gegen Stoke) als in seinen nächsten 24 Premier-League-Spielen (5 Tore).
- In 18 dieser letzten 24 PL-Matches stand er mindestens 60 Minuten auf dem Spielfeld.
- Gegen Top-6-Vereine schoss Morata 2 Tore in 8 Spielen. Ich habe hierbei explizit die beiden Spiele gegen City rausgenommen, weil er in diesen insgesamt 36 Minuten auf dem Platz stand. Rechnet man diese beiden Partien hinzu, kommt Morata auf eine Quote von 2/10.
- Seit der Jahreswende hat Morata 1 Tor (!) in der Premier League erzielt.
In einem anderen Post von vor einem halben Jahr habe ich einige „Highlights“ der Morata’schen Abschlussschwäche aufgezählt. Geändert hat sich seitdem nichts, wie man im weiteren Verlauf der vergangenen Saison und in der Vorbereitung sehen konnte.
Zugänge:
Jorginho (Neapel), Mateo Kovacic (Real Madrid, Leihe), Kepa Arrizabalaga (Athletic Bilbao)
Abgänge:
Thibaut Courtois (Real Madrid), Kenedy (Newcastle, Leihe), Mario Pasalic (Atalanta, Leihe)
Manager: Maurizio Sarri
Der kettenrauchende ehemalige Banker Maurizio Sarri soll es nun also auf der Chelsea-Trainerbank richten. Die Vorschusslorbeeren sind nicht wenige, Sarri kommt mit dem Ruf eines Top-Mannes für modernen Offensivfußball und einer Fast-Meistersaison im Rücken, als er beinahe den Serienmeister Juventus vom Thron stürzte, nach London. Die Erwartungen an den Italiener sind groß, soll er doch endlich den Fußball an der Stamford Brige spielen lassen, den sich Roman Abramovich seit seiner Ankunft so sehr wünscht. Dass Sarris Fußball nicht nur ansehnlich, sondern auch erfolgreich sein soll, versteht sich von selbst – die Vereinsführung von Chelsea ist nachweislich nicht dafür bekannt, lange an Trainern festzuhalten, die keinen Erfolg bringen, wenngleich die letzten beiden Trainer (Mourinho und Conte) länger behalten wurden, als man erwartet hatte. Ein Gesinnungswandel? Abwarten. Roman und co. haben auf Sarris Wunsch das Mittelfeld de facto komplett erneuert und ihm einen neuen Torwart zur Verfügung gestellt, bei Rugani und Higuain musste man hingegen Niederlagen auf dem Transfermarkt hinnehmen. Gerade letzterer hätte Chelsea gut getan, schaut man sich das derzeit verfügbare Stürmermaterial Chelseas an. Tore und mangelnde Kreativität waren letzte Saison die größten Probleme auf dem Spielfeld, mit Sarri kehrt diesbezüglich zumindest theoretisch eine Besserung in diesen Bereichen ein. Die praktische Umsetzung steht allerdings in den Sternen geschrieben.
Player to watch: Eden Hazard
“After 6 wonderful years at Chelsea it might be time to discover something different. Certainly after this World Cup. I can decide if I want to stay or go, but Chelsea will make the final decision - if they want to let me go. You know my preferred destination.“
Mit diesen Worten sorgte Hazard am 14. Juli für einen Paukenschlag im internationalen Fußball. Vier Wochen später steht der Belgier immer noch im Kader von Chelsea und angesichts der Tatsache, dass das Premier-League-Transferfenster am 09. August um 18 Uhr deutscher Zeit geschlossen hat, scheint ein Transfer praktisch unmöglich, wäre doch ein Nachrüsten für Chelsea nicht mehr möglich. Hazard wird damit vermutlich dieses Wochenende in seine 7. Saison bei Chelsea starten und die Erwartungshaltung ist mittlerweile genauso groß wie die Menge an Fragezeichen, die hinter dem Superstar stehen: Kann Hazard unter seinem ersten offensiv ausgerichteten Trainer bei Chelsea ein neues Level erreichen? Kann Hazard mehr Tore schießen? Wird Hazard kommenden Sommer (oder sogar schon im Winter) einen Wechsel zu Real forcieren? Etc. etc. etc. Fest steht, dass Hazard mit Sarri endlich einen Trainer bekommen hat, der Hazards Verständnis vom Fußballspielen entgegenkommen sollte. Alles Weitere wird davon abhängen, wie Hazard in Sarris Mannschaft passt und ob Chelsea im Laufe der nächsten Saison die nötigen Schritte Richtung europäischer Fußballelite machen kann. Denn mit der Europa League wird man einen Spieler von diesem Format nicht halten können.
X-Faktor: Abschlussstärke
Wie oben bereits angeführt, ist Chelseas größte Problemzone der Sturm. Dies könnte man verkraften, wenn man einen Frank Lampard oder Michael Ballack im Mittelfeld hätte, doch leider schreiben wir das Jahr 2018. Eden Hazard ist mehr Spielmacher als Torjäger, Willian und Pedro sind Arbeitstiere, die jeweils 3-4 Wochen pro Saison aufdrehen und dann wieder verschwinden, das Mittelfeld um Kovacic, Jorginho und Kante wird, wenn’s gut läuft, auf insgesamt zehn Tore in der Saison kommen und Marcos Alonso, der letzte Saison noch sieben Tore erzielte, wird in der anstehenden Spielzeit positionsbedingt sehr wahrscheinlich seine Torausbeute nicht wiederholen können. Wenngleich Sarriball für offensive Firepower steht, so ist auch dieses System von den Akteuren, die es umsetzen sollen, abhängig. Wie im Fall von Dries Mertens in Neapel scheint es, als würde Sarri auch in London seinen neuen Torjäger erst noch finden und formen müssen.
Prognose: 3.
Ganz nüchtern betrachtet steht man vor einer Übergangssaison. Sarris Fußballverständnis wird seine Zeit brauchen, bis es auch in den Köpfen und Füßen der Chelsea-Spieler verankert ist. Gerade das neue Mittelfeld fängt bei Null an, wenngleich Jorginhos jahrelange Erfahrung als Sarri-Spieler schon von der ersten Minute an für Abhilfe sorgen sollte. Weiters wird interessant zu beobachten sein, wie schnell sich die Verteidiger wieder an die Aufgaben- und Rollenverteilung in einer Viererkette gewöhnen können. Einzig die unsichere Situation in der Offensive der Mannschaft trübt die Vorfreude doch gewaltig. Ohne einen verlässlichen 20-Tore-Mann tut man sich heutzutage in der Premier League schwer, selbst Arsenal hat mit Aubameyang einen Spieler, dem es eher als Morata zuzutrauen ist, diese Benchmark zu erreichen. In Summe kann man ein überwiegend dominantes Auftreten von Chelsea in Spielen gegen die kleineren Gegner erwarten, im Duell mit den Top-6-Konkurrenten wird man sich aber geschlagen geben müssen. Dafür hat man einerseits zu wenige Spieler im Kader, die den Unterschied ausmachen können, und andererseits steht man vor einem Neuanfang, den Sarri hoffentlich mutig und resolut durchziehen wird. Lieber dieses Jahr der neuen Linie treu bleiben und etwas für die Zukunft aufbauen, als schnelle Lösungen zu suchen und die Entwicklung des Teams hinten anzustellen, ist der Wunsch der meisten Chelsea-Fans. Das ergebnisorientierte Ziel sollte weiterhin die Qualifikation für die Champions League sein. Es ist Chelsea allerdings durchaus zuzutrauen, dass man – unter anderem auch einer schwächeren Konkurrenz als letztes Jahr geschuldet – besser abschneidet, als viele es erwarten.