Sagt mal, liegt es an mir, dass ich bis gestern noch nie etwas von
Fleabag gehört hatte, habe ich das einfach überlesen? Oder wurde dieses kleine, aber feine britische Meisterwerk hier einfach kaum diskutiert? Eine kurze Sportforen-Suche zeigt mir nur einen Treffer,
ein Post von Schlomo23 aus dem Juni 2019.
Dank den Jungs und Mädels von
SERIöS (sowieso eine sehr empfehlenswerte Sendung, aus meiner Sicht) bin ich gestern darauf aufmerksam geworden und wenn ich mich nicht gezügelt hätte, wären alleine gestern beide Staffeln vernichtet worden.
Mal die Basics: Man kann die Serie auf Amazon Prime schauen. Gibt zwei Staffeln (vorerst wird leider keine neue dazukommen) mit sechs Folgen. Eine Folge dauert 26 Minuten. Was extrem angenehm ist. In den 26 Minuten passiert sehr viel, so dass dadurch auch kein Qualitätsverlust entsteht.
Die Serie ist radikal aus der Ich-Perspektive einer Londoner Frau in ihren frühen 30ern erzählt.
Phoebe Waller-Bridge (Autorin und Produzentin von Killing Eve, Darstellerin in Broadchurch) spielt die Hauptrolle, schreibt die Drehbücher und produziert. Dieser Dreiklang tut der Serie sehr gut, denn Waller-Bridge schont sich nicht. Die vierte Wand wird sehr häufig durchbrochen und das funktioniert hervorragend. In dieser Hinsicht erinnert mich Fleabag an die großartige US-Serie You. Beiden Serien hilft das auch enorm beim Pacing.
Waller-Bridge spielt eine intelligente und ultra schlagfertige Frau, die allerdings wegen ihrer, nennen wir es mal oberflächlich chaotischen Ader finanzielle und soziale Probleme hat. Sie hat einige Pakete mit sich herumzutragen, was sich besonders in ihrem Sexleben zeigt. Sie ist im Prinzip beziehungsunfähig, schafft es aber immer wieder, Männer so zu manipulieren, dass sie dann doch das bekommt, was sie will. Ihr sexuelles Verlangen ist nahe an der Sexsucht. Sie konsumiert regelmäßig Pornos. In einer Szene (ist kein Spoiler) befriedigt sie sich während einer Rede zur Außenpolitik von Obama - während ihr Freund neben ihr liegt.
Fleabag ist eine Dramedy im besten Sinne. Sehr authentisch, schockierend ehrlich, traurig, bewegend. Aber auch immer wieder mit richtig guten Gags. Chapeau für das Timing. Von den Simpsons abgesehen musste ich in letzter Zeit selten so intensiv lachen.
Die größte Stärke der Serie ist aber mMn die durch und durch weibliche Perspektive, aus der heraus die Handlung erzählt wird. Das ist wahnsinnig erfrischend, weil man das einfach kaum so zu sehen bekommt. Also ich habe das in dieser Form zuvor noch nicht gesehen.
Ich habe vier Folgen geschaut. Laut Ralf Hußmann bei SERIöS sei er einer der wenigen Menschen, denen die erste Staffel besser gefällt als die zweite. D.h. anscheinend ist da sogar noch Spielraum nach oben. Um ehrlich zu sein hätte ich ohne diese Information schon jetzt 10/10 vergeben, so gehe ich mal auf 9,75, um noch minimalen Spielraum nach oben zu haben.
Allerdings kann ich nur jedem, für den diese Beschreibung jetzt ansatzweise spannend klang, empfehlen, der Serie eine Chance zu geben. Zumindest mal die ersten zwei Folgen - für diese 52 Minuten bekommt man normalerweise nur eine Folge einer Serie.
Und es bin nicht nur ich, der begeistert ist. Die zweite Staffel hat zig Preise gewonnen* (Emmys, Golden Globe) und der
Guardian hat Fleabag auf #8 der besten Serien des Jahrhunderts gelistet.
*was es irgendwie noch erstaunlicher für mich macht, dass ich nie etwas davon gehört hatte, aber da die Serie hier offensichtlich noch nie Thema war auch ein Grund mehr, einen so langen Text darüber zu schreiben.