Was die Betreuung von Kindern und Jugendlichen beim Sport angeht bin ich völlig bei dir: Hauptaugenmerk sollte immer die Freude sein, Spaß an der Bewegung, am Lernen und Besserwerden. Ehrgeiz und Leistungsdenken sind dem hinderlich - und wenn auch das Ziel des Gewinnens immer im Hintergrund steht, sollte auf keinen Fall die Freude verloren gehen. Das bedeutet mitnichten, dass man sich nicht auch quälen kann (und soll) im Training, dieses Sich-Anstrengen hat ja häufig auch etwas Schönes.
Allerdings halte ich das Vorhandensein einer latenten Aggressivität beim Menschen nicht für eine erst zu beweisende These, sondern für eine schlichte Tatsache (wie oben geschrieben ist sie für das Überleben fast jeder Spezies unerlässlich). Wir verteidigen uns selbst, unsere Familie, unsere Gruppe - und wir tun das mit einer uns innewohnenden Gewaltbereitschaft. Das bedeutet keineswegs, dass der Mensch nicht auch ein überaus mitfühlendes, altruistisches Wesen ist bzw. sein kann - aber eben nicht nur (so wünschenswert das auch wäre). Diese Aggressivität dient u. a. (allerdings ist das in unserer Gesellschaft glücklicherweise weitgehend negativ konnotiert) bei heranwachsenden, männlichen Jugendlichen dazu, eine Position in der entsprechenden Gruppe einzunehmen, sein Selbstbewusstsein zu steigern etc.
Ich kann nur von eigenen Erfahrungen berichten: Fast alle meine Freunde und Bekannten wuchsen in einem recht autoritären Elternhaus auf, mit Vätern, die gewalttätig waren, mit Erziehungsmethoden, die häufig auf Erniedrigung abzielten, es für die Betreffenden schwer machten, wirkliches Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit zu entwickeln. Es staute sich Wut an, man ist permanentem Druck ausgesetzt, der sich irgendwie entladen will (für mich war jeder Sport eine Möglichkeit, diese brodelnde Energie und Wut loszuwerden: Ich betrieb Fußball, Leichtathletik, Boxen etc. und die Anstrengung befreite mich z. T. von diesem Druck). Man will nicht immer nur der Macht anderer ausgesetzt, sondern auch selbst mal der Starke sein: Auch wenn man dann die Erfahrung macht, dass dies keineswegs befriedigend ist und keinesfalls zufrieden macht, es ist eben nur Ausdruck der Hilflosigkeit.
Ich habe später dann einige Zeit mit der Betreuung "schwieriger Jugendlicher" zu tun gehabt und habe dort dieselben Muster entdeckt wie früher bei mir selbst: Aufgestaute Wut, Aggression (die sich, weil nicht wirklich reflektiert, ganz unspezifisch auf die ganze Gesellschaft richtet), Unfähigkeit, mit dem allen vernünftig umzugehen. Und auch da wieder die Erfahrung gemacht, dass Sport durch die körperliche Inanspruchnahme, durch das Erreichen von Zielen der Persönlichkeitsentwicklung förderlich war. Wobei es mir zumeist lieber war, die Jugendlichen nicht beim Kampfsport untergebracht zu wissen, sondern beim Fußball, in der Leichtathletik etc. Der Kampfsportbereich hatte immer auch Berührungspunkte mit dem "Milieu", das Umfeld schien mir bei wenig gefestigten Personen eher gefährlich.
Ich glaube dir selbstverständlich, wenn du von dir sagst, dass alle diese Dinge für dich beim Boxen keine Rolle gespielt haben: Unsicherheit, Wut, Aggressivität etc. Für mich persönlich war das sehr wohl der Fall (obschon ich andere Sportarten schlussendlich bevorzugt habe, ich wollte mich eigentlich nie mit jemanden in dieser Form körperlich messen, es war mir lieber, über 800 oder 1500 Meter schneller zu sein). Und bei den allermeisten mir bekannten Menschen war das ganz ähnlich: Sie wussten nicht, wohin mit all der Wut, dem Unverständnis gegenüber einer Welt, die sie schäbig behandelte.
Ich würde mir selbstverständlich eine Welt wünschen, die weitgehend frei von aggressiven, egoistischen und auf bloßer Machtentfaltung beruhenden Motiven ist. Aber Menschen sind keine Engel, sie haben - neben all den wundervollen - auch Eigenschaften, die gerade in unserer Zivilisation fatal und völlig fehl am Platz sind. Das zu ignorieren oder abzuleugnen halte ich für gefährlich. Vielleicht gibt es Menschen, die sehr viel weniger dieser Aggressivität besitzen: Allerdings habe ich solche bislang kaum kennengelernt (am ehesten noch unter Frauen). Bei Boxern bzw. Boxfans scheint es aber eine eher rare Erscheinung - aber wie immer bei solchen Dingen: Vielleicht liege ich falsch und habe bisher in einer recht selektiven Welt gelebt.