Wieso sagte Federer die Saison 2020 komplett ab?
Wegen seines rechten Knies. Nachdem es am 19. Februar erstmals operiert worden war, wurde nun ein zweiter Eingriff nötig, wie er am Mittwoch auf Twitter bekannt gab. «Nach einem Rückschlag in meiner Therapie musste ich mich vor wenigen Wochen einer weiteren kleinen arthroskopischen Prozedur unterziehen», schrieb er. «Ähnlich wie ich es im Vorfeld der Saison 2017 tat, plane ich, mir die nötige Zeit zu geben, um wieder auf meinem höchsten Niveau hundertprozentig einsatzbereit zu sein.» Er werde den Proficircuit vermissen, aber freue sich, zu Saisonbeginn 2021 alle wieder zu treffen.
Wie steht es denn um sein rechtes Knie?
Federer hat nicht präzisiert, wieso die zweite OP nötig wurde. Beim linken Knie, das 2016 operiert wurde, war die Ursache ein Meniskusriss, den er nach dem Australian Open erlitten hatte, als er den Töchtern ein Bad einliess. Das linke Knie behinderte ihn seit seinem Comeback 2017 nicht mehr. Menisken sind faserige Knorpelscheiben im Knie, die den Druck abfangen und den Knorpel schmieren. Bei einer Meniskusoperation entfernt man einen Teil des Meniskus, der Eingriff bringt meist gute Resultate.
«In der Regel ist nur eine Operation nötig», sagt Kniespezialist Bruno Waespe von der Klinik Bethanien. «Aber ich habe schon Reoperationen durchgeführt. Falls nur der Meniskus betroffen ist, ist die Prognose für Federer gut. Heikel wird es, wenn auch der Knorpel beschädigt ist und das Stress im Knochen ausgelöst hat. Da ist dann entscheidend, an welcher Stelle der Knorpelschaden entstanden ist.» Wichtig sei, dass Federer innert zwei, drei Monaten das Knie wieder belasten, das Training wieder aufnehmen könne. Sonst werde ein Comeback mit 39 äusserst schwierig.
Welche Konsequenzen hat diese Pause für die Weltrangliste?
Wohl keine allzu grossen. Sie hängen einerseits davon ab, ob und wie viele Turniere 2020 noch gespielt werden können, andererseits von politischen Entscheiden der ATP. Diese hat die Weltrangliste wegen der Corona-Pause auf dem Stand vom 16. März eingefroren. Mit 6630 Punkten erscheint Federer da als Nummer 4. Davon hat er 5910 Punkte 2019 geholt, und die Frage ist, wann diese gelöscht werden.
Weil davon auszugehen ist, dass Wimbledon und Halle 2019 zwei Jahre in der Wertung bleiben, wird Federer Ende 2020 mindestens 2420 Punkte aufweisen, zusammen mit dem Halbfinal des Australian Open. Das sollte reichen, um in den Top 10 zu bleiben, selbst wenn noch gespielt werden könnte. Er wird damit Anfang 2021 besser klassiert sein als vier Jahre zuvor, als er bei seinem Comeback als Nummer 17 in Melbourne antrat und den Titel holte.
Was könnte er alles verpassen?
Alle internationalen Tennisevents sind wegen der Corona-Krise vorerst bis Ende Juli abgesagt, die Frist dürfte bald auf Ende August erstreckt werden. Immer noch auf dem Programm stehen das US Open (ab 31. August) und das verschobene French Open (ab 20. September). In New York ist man fest entschlossen, plangemäss zu spielen, obschon Novak Djokovic angesichts der restriktiven Rahmenbedingungen schon abgewinkt hat. Im schlimmsten Fall würde Federer also zwei Grand-Slam-Turniere und allenfalls das ATP-Finale verpassen, das zum letzten Mal in London stattfinden würde. Was sein Heimturnier in Basel (geplant ab 26. Oktober) betrifft: Auch über diesem schweben dunkle Wolken.
Könnte diese Verletzung sein Karriereende bedeuten?
Federer wirkt fest entschlossen, seine Laufbahn fortzusetzen, seine Faszination für das Tennis und die grossen Turniere ist ungebrochen. Seine Popularität ist mit dem Alter weiter gestiegen, und auch das Selbstvertrauen dürfte weiter gross sein. Seit der Operation seines linken Knies gewann er 15 Turniere und erreichte im Januar trotz Leistenproblemen in Melbourne den Halbfinal. Mit den Olympischen Spielen in Tokio und dem verschobenen Laver-Cup in Boston bieten sich ihm 2021 zudem zwei spezielle Ziele. Allerdings wird er im August 39, was für Tennisprofis ein biblisches Alter ist und wodurch er sich zweifellos auf dünnem Eis bewegt.
Haben sich Federers Verletzungen jüngst gehäuft?
Das ist nicht von der Hand zu weisen. Nach seinem Traum-Comeback 2017 mit fünf Titeln in den ersten sieben Turnieren meldete sich im Herbst jenes Jahres der Rücken wieder. 2018 verletzte er sich zu Beginn der Rasensaison an der Hand, am US Open rebellierte sein Körper gegen die feuchtheisse Hitze. An den letzten zwei Grand-Slam-Turnieren wurde er von den Adduktoren (Australian Open) beziehungsweise vom Rücken (US Open) gebremst. Es folgten die beiden Knieoperationen rechts. Alarmierend ist, dass die Beschwerden vielfältiger geworden sind. Lange ging es für ihn primär darum, seinen Rücken unter Kontrolle zu halten.
Hat die Pause auch positive Aspekte?
Mehrere. So kann er sich nun in Ruhe der Therapie und seinem Privatleben widmen und ist im Gegensatz zu seinen Konkurrenten die Ungewissheit los, ob und wann für ihn die Saison weitergeht. Schon die Operation im Februar fiel zeitlich günstig, da er wegen der Pandemie seither ohnehin nicht hätte spielen können. Und weil sich abzeichnet, dass das Tennis wegen seiner Internationalität als eine der letzten Profisportarten zum Alltag zurückkehren wird, sollten die Folgen von Federers fast einjähriger Wettkampfpause überschaubar bleiben. Der 103-fache Turniersieger hat zudem wiederholt bewiesen, dass er und sein Team Meister der Planung sind und sie auch aus wettkampffreien Zeiten ein Optimum herausholen können.
Kann er auch mit 39 noch ein Grand-Slam-Turnier gewinnen?
Ja, durchaus. Wenn er wieder gesund wird. Jüngst war er nicht so weit entfernt von Grand-Slam-Titel Nummer 21. An seinen letzten vier Majors erreichte er den Halbfinal (Australian Open), Viertelfinal (US Open), Final (Wimbledon) und nochmals den Halbfinal (Paris). Doch es wird aller Voraussicht nach schwieriger als 2017 und 2018, als die nächste Generation noch nicht so weit war wie jetzt und sich Novak Djokovic in einer Schaffenskrise befand. Der Serbe ist mit einer Bilanz von 18:0 in die Saison gestartet und hat gegen Federer die sechs letzten Grand-Slam-Duelle gewonnen. Wenn auch jenes in Wimbledon 2019 erst nach zwei abgewehrten Matchbällen.
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