Die ersten zwei Motive dürften bekannt und nachvollziehbar sein. Da ist einerseits seine ausgeprägte Hingabe und Vernarrtheit in seinen Sport, in dem er so viel erreicht, dem er so viel gegeben und von dem er noch viel mehr bekommen hat. Den er, auch nach seinem Rücktritt, prosperieren sehen will. Und da ist andererseits sein ausgeprägter Stolz und sein Dünkel, sich von nichts und niemandem etwas vorschreiben zu lassen, Regeln zu brechen und Grenzen zu verschieben. Vielleicht ist er nicht zufällig im Sternzeichen Löwe geboren.
Der dritte Grund ist weniger offensichtlich und hat mit einer Art Bauernschläue zu tun. Einer taktischen Gewieftheit, ohne die er nie 20 Grand-Slam-Titel, 83 weitere Turniere sowie 1271 seiner 1526 Matches auf höchster Stufe gewonnen hätte. Roger Federer, der in seiner Karriere zunehmend jedes Detail berücksichtigt hat, wird sich in den vergangenen Wochen die Pros und Contras eines sofortigen Rücktritts sorgfältig überlegt haben. Und da er als gläserne Figur in der Öffentlichkeit steht und jeder seiner Schritte unter dem Brennglas weltweit verfolgt wird, ist es auch nicht vermessen, diese Gründe zu benennen.
Als Grundsatzfrage dürfte er sich überlegt haben: Was würde es bringen, sofort zurückzutreten? Und was spricht dagegen? Die Antwort: Bringen würde es ihm momentan gar nichts, im Gegenteil. Denn solange Federer offiziell nicht zurückgetreten ist, ist er für alle attraktiver – für seine Sponsoren, seine Partner, die Medien, seine Partikularinteressen im Tennis (wie dem Laver-Cup) sowie der Sportart insgesamt. Immerhin ist Federer einer der populärsten und beliebtesten Athleten, die der Sport je gesehen hat. Selbst als alternder Langzeit-Rekonvaleszenter bringt er dem Tennis mehr denn als Zurückgetretener. Und sollte er tatsächlich noch einmal ein Comeback geben (können) – das Interesse wäre überwältigend.
Damit soll nicht behauptet werden, Federer denke in erster Linie nur an sich. Er ist ein Teamplayer, ein Familienmensch, der sich für seine Nächsten und seine Partnerinnen und Partner einsetzt – und zwar je länger desto offensichtlicher und hemmungsloser, wie zahlreiche, nur leicht verkappte Werbeauftritte der vergangenen Monate und Jahre illustrieren. Darüber hinaus ist er aber auch ein Menschenfreund und Philanthrop, der schon mehrere Dutzend Millionen Spendengelder generiert hat für seine Stiftung – und daran arbeitet, diese immer noch grösser werden zu lassen.
Wie gewieft Federer taktisch vorgeht, zeigen auch die vergangenen Wochen und Monate. Fragen nach dem Knie wich er auch nach dem Aus in Wimbledon geschickt aus: Trotz des 0:6 verlorenen dritten Satzes gegen Hurkacz sagte er, er habe sich "körperlich eigentlich gut gefühlt". Im gleichen Interview kündigte er bereits an, sich "von niemandem bedrängen zu lassen" hinsichtlich eines allfälligen Rücktritts, "weder von den Medien oder sonst jemandem. Mein Ziel ist es, weiterzuspielen".
(René Stauffer/tagesanzeiger.ch)