So, nachdem ich ein paar Tage lang den Kopf geschüttelt habe über diese Diskussion nun noch ein paar Worte meinerseits.
1. Kann eine Hymne irgendwie beim Spiel helfen? Ja, aber nur wenn sich die beiden Teams auf ähnlichem Niveau bewegen. Liechtenstein kann seine Hymne gegen nichtsingende Spanier noch so hinausröhren, das wird nicht besser werden für sie deswegen. Auf ähnlichem Niveau können aber manchmal Nuancen entscheidend sein und mit einem kräftigen Singen der Hymne kann man sich a) selber pushen und b) dem Gegner ein wenig die Zähne zeigen. Pushen kann man sich aber auch indem man zur neuen Freundin auf die Tribüne guckt, sich mit Kopfhörern irgendwelchen harten HipHop, Deathmetal oder so was in voller Lautstärke gibt, einen Haka aufführt oder auf zig andere Arten. Die Zähne zeigen kann man auch mit der Körpersprache. Kahn wurde ja schon erwähnt. Der sang so gut wie nie mit und trotzdem wusste jeder Gegner, wenn du dem zu nah kommst wirds unangenehm. Die Hymne ist also eine Möglichkeit, wie man 5% mehr rauskitzeln kann, aber sicher nicht die einzige und diese 5% bringen dir auch nur dann was, wenn der Gegner nicht ohnehin schon um 50% besser ist als man selber. Gerade auch auf die Spiele bezogen, wegen denen hier ein Fass aufgemacht wird ist die Hymne aber so was von eine vernachlässigbare Grösse. Spanien singt nicht und haut die Hymnenbrüller aus Italien weg. Pirlo stand nicht auf der Linie als Buffon patzte, weil er die Hymne so super gesungen hat, genausowenig wie die Deutschen Abwehrfehler irgendwie im Kontext mit der Hymne standen. Khedira sang nicht und war mit Abstand der grösste Fighter der Deutschen. Also in diesem Zusammenhang ist die Hymne schlichtweg irrelevant.
2. Nationen sind nichts Naturgegebenes, sondern ein menschliches Konstrukt, welches sich im Laufe der Jahre zu diesen Staaten entwickelt hat, wie wir sie heute kennen und welches sich immer noch weiterentwickelt! Heute, in der Zeit der Globalisierung etc. hat doch jedes Land zig Migranten von überallher. Mit 1,2 Ausnahmen hatte an dieser Euro jede (!) Mannschaft mindestens 1 Spieler, welcher auch für ein anderes Land spielberechtigt gewesen wäre. Und Heimat ist nun mal ein Gefühl, welches in Kopf und Herz entsteht und nichts mit politischen und von Menschen gezogenen Grenzen zu tun hat, genausowenig mit Nationalmannschaften, Fussballverbänden und FIFA-Regularien. Podolski kann also problemlos Pole und Deutscher sein. Andere hätten sich in seiner Situation im Spiel gegen Polen gar nicht aufstellen lassen (Strupar bei Belgien im Qualispiel gegen Kroatien 2002 z.B.). Poldi schiesst Polen im Alleingang ab und jubelt dann aus Respekt vor der Oma und so nicht. Er hat aber 2 Tore geschossen und muss verdammt noch mal nicht vor Freude auf die polnische Fahne ejakulieren, damit man ihm das Deutschein abnimmt. Genauso kann es sein, dass andere Spieler irgendwie die Hymne nicht Singen etc. Wenn sie dann so spielen wie Khedira, tun sie verdammt nochmal genug für dieses Land. Dass es Leute gibt, die nie in der Situation waren 2 Herzen in der Brust gehabt zu haben ist klar. Ich finde es dann eine Frechheit wenn so Leute uns Doppelbürgern versuchen zu erklären, wie man es richtig macht, habe es aber mittlerweile akzeptiert. Aber User, welchen Müll wie "dann sollen sie für Polen oder die Türkei spielen" von sich geben, kann ich nur darauf aufmerksam machen, dass dies hier ein Sportforum ist und man Faschoparolen nach Möglichkeit woanders von sich geben soll.
3. Ich habe mich selber beim Spiel Schweiz-Deutschland dabei erwischt, wie ich gedacht habe, dass einer der Schweizer Secondos die Hymne mitsingen könnte, bzw. dass ich sie an deren Stelle mitsingen würde. Vor allem aber aus dem Grund, um gegenüber der politischen Rechten und der Stammtischfraktion ein Zeichen zu setzen, welche ja nicht aufhören können zu betonen, dass die Schweizer NM ja nicht mehr aus "Schweizern" besteht und immer die Unterstellungen kommen, dass gerade die Kosovoalbanischen Spieler wohl nur für die Schweiz spielen, weil der Kosovo noch keine Fifa-Lizenz hat. Man muss sich dann aber auch nicht wundern, dass so Leute sich nie vollständig als Schweizer, bzw. Deutsche fühlen können, wenn man sie permanent als Bürger 2. Klasse betrachtet.
Hinzu kommt, dass man in Mitteleuropa sicherere Berufsalternativen als eine Fussballerkarriere hat, wie z.B. eine Berufslehre oder ein Studium und oft auch die auf die Karriere Fussball setzen, welche sonst keine Möglichkeiten haben und das nunmal oft Migranten sind. Die Diskussion weshalb, warum etc. würde den Rahmen hier sprengen, aber man soll das vielleicht auch mal im Hinterkopf haben, bevor man am Stammtisch unreflektiert zu "die Kanacken singen nicht mal die Hymne und verlieren dann noch das Spiel, sollen die doch wieder für Polen und die Türkei spielen" ausholt.