Die Frage ist letztlich, wie man Herz definiert. Deine Sichtweise ist natürlich zulässig. Für mich ist das eine Scheinwahrheit - plakativ und insofern nachvollziehbar, aber eben nur scheinbar richtig.
Relativ früh im Kampf merken sowohl Wilder als auch Joshua, dass die Taktik so nicht aufgeht. Die Gründe sind unterschiedlich:
Wilder wurde von seinem Team als Erfahrung aus dem 2. Kampf dahingehend geimpft, gegen Fury nicht den Infight zu suchen, sondern ihn aus der Distanz mit Variationen zum Körper und Kopf von sich fernzuhalten. In Anbetracht der geringen technischen Variationsmöglichkeiten von Wilder keine schlechte Idee. Als Fury merkt, dass ihm dagegen boxerisch wenig einfällt, erhöht er den Druck, indem er die Masse ins Spiel bringt und versucht, Wilder in den Infight zu zwingen. Das Ergebnis ist ein Niederschlag, der Wilder komplett seine taktische Linie verlieren lässt. Man achte auf den Blick von Wilder nach dem Niederschlag -> pure Resignation und Hilflosigkeit
Joshua baut den Kampf aus der Distanz und Halbdistanz über den Jab auf und versucht gelegentlich den rechten Haken unterzubringen. Problem: Usyk ist der schnellere Boxer, der zudem wesentlich beweglicher im Oberkörper ist und öfter die Linie verlässt. Folglich trifft Usyk sowohl mit dem Jab, als auch mit Overhands und das als Boxer, der kleiner ist und die deutlich geringere Reichweite hat.
Jetzt ist es interessant, wie beide Boxer reagieren:
Wilder schaltet in den Brawl-Modus, grundsätzlich wohl das Einzige, was er macht, wenn ihm nichts einfällt. Das er damit auch noch Fury erwischt, obwohl Fury das schon aus den ersten beiden Kämpfen kennt, spricht nicht für Wilder, sondern gegen Fury. Fury stellt sich aber schnell darauf ein und dann ist es um Wilder geschehen, der nur noch gelegentlich versucht, seine Heumacher unterzubringen, während Fury mit all seinen dirty Tactics am Mann wühlt, ringt, in den Schwitzkasten nimmt etc.. Das Herz, mal etwas grundsätzlich anders zu machen, etwas auszuprobieren oder gar die nicht schlechte taktische Linie der ersten beiden Runde zu etablieren, hat Wilder eben nicht.
Joshua merkt spätestens nach dem saftigen Treffer von Usyk in der dritten Runde, dass er systemisch unterlegen ist. Trotzdem hat er das Herz, die taktische Linie aufrecht zu erhalten. Er versucht ab der vierten Runde auch mal zu Körper zu schlagen und beweglicher in Oberkörper zu sein und Usyk mehr kommen zu lassen, um zu kontern. Das ist für mich deutlich mehr Herz als sich zu ergeben und auf die Nulltaktik des Heumachens zurückzuziehen. Joshua versucht mit seinen Mitteln das Problem Usyk boxerisch zu lösen, was ich ihm hoch anrechne, Wilder versucht nur noch zu überleben. Auch in den Runden 11 und 12 boxen beide Gegner. Es wird nicht geschoben, runtergedrückt oder gerungen. Keiner stakst völlig fertig durch den Ring sondern pures Boxen. Zeigt eben auch der Schlagstatistik-Vergleich (Copyright bei Compubox):
Die große Nebelkerze im dritten Fury-Wilder-Kampf sind die beiden Niederschläge, die Wilder in der vierten Runde erzielt. Man sieht kurz Anfang der fünften Runde, wie Wilder wieder wie in den ersten beiden Runden aus der Distanz zum Körper schlägt, dann übernimmt Fury wieder mit den Schieben, Ringen, Wühlen am Mann das Kommando, lädt Wilder zum Traden ein und zeigt über die Körpersprache: Ich bin hier der Boss und die beiden Niederschläge, waren das Letzte, was Dir hier heute gelungen ist.
In der psychischen Kampfesführung ist das großes Kino, aber eben nicht von Wilder. Ab der sechsten Runde ist Fury der Boss im Ring. Er schiebt, drückt runter, nimmt in den Schwitzkasten und haut dem müden Wilder Haken vor die Fressluke. Die Körpersprache von Wilder ist eindeutig: Er sitzt in einem Zug, in dem er nicht sitzen will und die gelegentlichen Heumacher, die er erschöpft rausrudert, ändern gar nichts daran. Immer wieder stecken seine Arme unter den Achseln von Fury und sein Kopf ruht am Schultergelenk von Fury, ansonsten stakst Wilder völlig fertig durch den Ring.
Wilder und Fury brawlen, schieben, drücken, ringen sich durch den Ring -> wirkt wie eine Schlacht und ist für manchen Betrachter der Schwergewichtskampf der letzten Jahre -> ein Brawl gaukelt Intensität vor, wo boxerische Armut herrscht. Die Reaktion von Wilder auf Furys Kampfesführung zeigt eben kein Herz, sondern ist voller Ergebenheit.
Joshuas Pech ist halt die Krabbelei gegen den fetten Ruiz Jr. und das "Angsthasen"-Boxen im Rückkampf -> Rufzerstörend.
Wilders Glück ist halt sein Ruf als Mordspuncher, der auch schon Kämpfe hintenraus über seine Heumacher entschieden hat -> Überhöhung