12.10.2004
Interview mit Vitali und Wladimir
Die Klitschkos über eine gefährliche Kindheit, Sternenkrankheit, Schwarzenegger
München - Die Boxer sind nun also auch Buchautoren. "Unter Brüdern" - wie auch sonst? - heißt das Gemeinschaftswerk von Witali (33) und Wladimir (28) Klitschko. Ein Gespräch über das Interessanteste auf 400 Seiten und die Pläne der Ukrainer.
Witali, Wladimir, schön, Sie zu sehen. Wenn man in "Unter Brüdern" liest, was Ihnen als Kindern widerfahren ist, erscheint es als Wunder, dass sie noch leben. Wladimir, Sie kauten Rasierklingen, Witali, Ihnen bohrte sich mal eine Glasscherbe durch die Wange in den Mundraum; gemeinsam zeichneten Sie für manche Explosion verantwortlich in den Militärgarnisonen, in denen Sie mit dem Vater lebten.
Witali: Wenn mein Sohn Egor Daniel anstellen würde, was wir alles gemacht haben, würde ich in Ohnmacht fallen vor Angst. Die Hälfte von dem Unfug, den wir beschreiben, von dem haben unsere Eltern gar nichts erfahren.
Sie hatten Schutzengel.
Wladimir: Man sieht die Engel nicht. Aber wenn etwas schlecht läuft, fragt man: Wo sind die Engel? Es war eine Kette von Zufällen, das ergibt schon wieder ein Gesetz.
Wer ein Buch verkaufen will, muss auch Geheimnisse verraten.
Witali: Es ist keine Beichte wie bei einem Pfarrer, und sicher hat jeder von uns noch Sachen für sich behalten. Warum das Buch? Alle kennen uns vom Boxring, von Interviews, wo wir geschminkt vor der Kamera stehen - im Buch versuchen wir die Gebrüder Klitschko als einfache Leute zu zeigen, mit den gleichen Problemen und Emotionen, wie sie jeder Mensch hat. Wir wohnen nicht im Vier-Jahreszeiten-Hotel, wo alles top ist, wir kommen aus einer einfachen Umgebung und haben verschiedene Zeiten erlebt. Auch Systeme: den Sozialismus, dann die Perestrojka-Zeit - nicht vom Westen aus, von innen. Die Wende zum Kapitalismus.
Vor allem für Vater Klitschko, den Militär: unbegreiflich.
Witali: Für mich als Jungen war es schon schwer, den Wandel zu fassen, unser Land war für mich das beste, das für alle Menschen nur das Gute wollte.
Kapitalismus war unser Feind, mit dieser Ideologie bin ich im Kindergarten aufgewachsen. Nun stellen Sie sich den Wandel für ältere Leute vor. Mein Vater war Kommunist, er hat sein Leben in eine Idee investiert. Die war auf einmal Schrott. Manche Leute haben nach dem Bruch in ihrem Leben Selbstmord verübt.
Witali war als Erster in Amerika, als Kickboxer, mit 18 und brachte für 20 Dollar Kaugummi mit.
Wladimir: Wir kannten Kaugummis nur aus Hollywood-Filmen, sah supercool aus.
Witali: Heute lachen wir darüber. Aber damals: Wir hatten auch gehört von Coca Cola. Mussten wir probieren.
Wladimir: Wir wollten die Dose öffnen mit dem Messer, wie eine Konserve.
Sie beide haben sich als Erwachsene taufen lassen.
Wladimir: Ohne Glaube bekommt man Schwierigkeiten. Jeder glaubt an etwas. Muslimisch, orthodox, katholisch, buddhistisch, an die kommunistische Partei früher, an Onkel Lenin, den ich um Verzeihung bat, wenn ich Schlechtes getan habe. Bei uns hat sich religiöser Glaube mit der Zeit entwickelt. Man darf aber nicht nur an den lieben Gott glauben, sondern auch an sich selbst.
Der Clown Oleg Popow erzählte Ihnen von der "Sternenkrankheit", der Gefahr, bei Erfolg den Höhenflug zu kriegen. Wladimir, im Buch kommt raus, dass Sie dafür anfälliger sind, und Witali muss sie runterholen. Nach Ihrer Sensations-Niederlage 2003 gegen Corrie Sanders hat Ihnen der große Bruder seine Missbilligung auf einem Zettel mitgeteilt.
Witali: Es ist besser, in Ruhe seine Emotionen aufzuschreiben.
War es schlimmer, die Kritik auf einem Zettel als direkt ins Gesicht mitgeteilt zu bekommen?
Wladimir: Egal, wichtig war der Inhalt. Der Bruder gibt seine Tipps wie kein anderer. Wir sind nicht geklont, haben jeder eine eigene Meinung und Charakter.
Nach Ihrer ersten Niederlage 1998 in Kiew gegen Ross Puritty, Wladimir, da schämten Sie sich vor Ihrem Bruder. Ist eine Motivation beim Boxen, dem Älteren zu gefallen?
Wladimir: Natürlich, denn wir sind ein Team. Ein Beispiel ist nicht nur Kiew, sondern auch der letzte April, als ich zwei Wochen vor Witali boxte und durch meine Niederlage gegen Lamon Brewster seinen Kampf gegen Corrie Sanders kompliziert gemacht habe. Sehr unangenehm für mich, dass ich durch eigene Schuld das Leben für meinen Bruder schwerer mache.
Witali, Sie haben Wladimir im Falle eines neuerlichen Flops eine Schauspielkarriere nahe gelegt.
Witali: Das wurde mir im Mund umgedreht. Ich wollte ihn nur ärgern - Motivation.
Wladimir: Boxen ist Theater. Als Boxer muss ich eine Rolle spielen. Ich muss noch im Ring üben, bevor ich in Hollywood spielen kann.
Nochmals zur Kindheit: Als Kiewer waren Sie 1986 von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl betroffen. Witali, Sie gingen sogar noch im Dnjepr baden.
Witali: Wir haben nicht gemerkt, was los ist, das war für uns ein großes Spiel erwachsener Menschen. Radioaktive Strahlung sieht und spürt man nicht, man hat nur darüber gehört und gelesen. Es ist kein Geheimnis mit den Nachwirkungen in der Ukraine und in Weißrussland, Gott sei Dank spüren wir das an unserer Gesundheit nicht, und ich habe keine Angst, denn wenn man jeden Tag daran denkt, dass noch was folgt, bekommt man einen psychischen Schaden.
Wie steht es um Ihre Gesundheit, Wladimir, nach dem rätselhaften Einbruch im Brewster-Kampf.
Wladimir: Ich habe keine Erkenntnisse, keine Antworten. Ich dachte, mit dem letzten Kampf gegen Williamson würde ich eine klare Antwort geben, das war nicht der Fall.
Sie mussten einen Niederschlag hinnehmen.
Witali: Stop, stop, stop. Alle sagen, Wladimir war kurz am Boden. Bin ich blind, ist was mit meinen Augen, habe ich Halluzinationen? Wladimir hat mit seinem Knie den Boden berührt, er hat die Balance verloren. Es stimmt einfach nicht, dass nur der Kopfstoß des Gegners Wladimir geholfen hat, zu gewinnen; jede Runde ging an Wladimir - das ist eine unabhängige Meinung nicht des Bruders, sondern vom Weltmeister des anderen Verbandes.
Was wird mit Fritz Sdunek? Er ist Cheftrainer bei der Universum-Promotion, von der Sie die Trennung gerichtlich erzwingen wollen. Und Wladimir arbeitete zuletzt mit Emanuel Steward zusammen.
Witali: Fritz war mein Trainer und bleibt mein Trainer. Es spielt keine Rolle, ob er bei Universum ist oder nicht. Wir arbeiten seit zehn Jahren miteinander, und bis zum Ende der Karriere habe ich keine anderen Trainerpläne.
Und Sie, Wladimir?
Wladimir: Fritz ist zuletzt nicht dabei gewesen, aber er hat den Trainingsaufbau mitgemacht, nach wie vor arbeite ich nach seinen Plänen.
Die Klitschkos haben immer Arnold Schwarzenegger nachgeeifert. Witali, gehen Sie auch mal in die Politik? Und da Sie schon in Los Angeles wohnen: Sie könnten der nächste Gouverneur von Kalifornien werden. . .
Witali: Ich habe viel Energie und viele Pläne, will aber nicht spekulieren. Ich weiß selbst nicht, was mir morgen bringt, aber für morgen bereite ich mich vor - heute.
Quelle: http://www.merkur-online.de/nachric...21.html?fCMS=9008b0da2221e4335e18f7cd9c82eb16