Ich kenne "Funny Games" zwar noch nicht, aber der Haneke hat in meinen Augen eine sehr eigene und nicht ganz unbedenkliche Sichtweise zum Film.
Hier ist mal ein sehr interessantes Interview aus dem aktuellen Film-Dienst:
Michael Hanekes neuer Film „Caché“, eine beklemmende Studie über Terror, Paranoia und die Wiederkehr des Verdrängten, war der große Gewinner des vergangenen Filmjahres. Insgesamt fünf Europäische Filmpreise, darunter die Auszeichnungen für den „Besten Film“ und die „Beste Regie“, gingen auf sein Konto; in Cannes wurde der Film 2005 mit dem Regiepreis gewürdigt. Doch auch das jüngste Werk des 1942 in München geborenen Österreichers wird kontrovers diskutiert, da es sich herkömmlichen Schemata verweigert. Wie alle Filme Hanekes ist „Caché“ (Kritik in dieser Ausgabe) eine psychologische Fallstudie über die Pathologie der Konsumgesellschaft, die tief ins Unbewusste leuchtet.
Warum sind Sie Filmregisseur geworden?
Haneke: Das frage ich mich auch manchmal. Ich wäre lieber Pianist geworden, aber leider hat mein Talent nicht gereicht. Gott sei Dank. Denn ich kenne viele Pianisten, die nur mittelmäßig begabt sind. Das ist schrecklich. Natürlich kann jeder machen, was er will. Nur interessiert es mich dann nicht. Ich habe nie Shakespeare oder Tschechow aufgeführt, obwohl ich 20 Jahre lang am Theater gearbeitet habe und beide für mich das Beste sind, was es in der dramatischen Literatur gibt. Der Grund: Ich fand es unverantwortbar, meilenweit hinter diesen Autoren zurückzubleiben. Diese permanente Form von Scheitern wollte ich mir nicht antun. Als Filmemacher fühle ich mich dem Autor Haneke jedoch gewachsen. Das ist eine gute Lösung. Ich wollte etwas werden, das mir angemessen ist, bei dem ich mich nicht verbiegen muss. Wenn man selbst die Drehbücher schreibt und dann verfilmt, ist die Chance, eine Identität zwischen Inhalt und Form zu finden, größer als in jeder anderen Kunst.
Was ist Ihre erste Kinoerinnerung?
Haneke: Meine Großmutter hat mich als Vier- oder Fünfjährigen mit ins Kino mitgenommen, in „Hamlet“ von Lawrence Olivier. Am Anfang dieses Films braust draußen ein heftiger Sturm, die Wogen des Meeres klatschen an das Schloss, es ist Nacht und alles sehr dunkel. Ich habe vor Angst so laut geschrien, dass meine Großmutter mit mir nach drei Minuten wieder gehen musste.
Das klingt fast so, als beschriebe jemand seine Erfahrungen mit Ihren Filmen. Wie hat sich Ihr spezieller Zugang zum Kino entwickelt?
Haneke: Es gibt für mich drei Kinoerfahrungen: Die erste ist die mit meiner Großmutter. Dann wurde ich als Sechsjähriger zur Erholung mehrere Monate nach Dänemark geschickt. Dort war ich in einem Film, der in der Savanne spielte. Man sah Giraffen und Löwen, und alles war super. Aber draußen regnete es. Ich habe nicht verstanden, warum ich nach der schönen Sonne plötzlich wieder im Regen stand. Das war die zweite Erfahrung. Die dritte Erfahrung resultierte aus einem Film von Tony Richardson. Da dreht sich der Darsteller plötzlich in die Kamera und wendet sich an die Zuschauer. Ich fiel vom Stuhl, als ich so meiner Illusion beraubt wurde. Ich glaube, wenn man diese drei Erfahrungen zusammen denkt, versteht man meine Position dem Kino gegenüber: Wer das Kino nicht kennt, besitzt nicht die Distanz, die zu seiner Erfahrung nötig ist. Die Gefahr der Manipulation ist wesentlich größer. Das ist das Thema. Ich erfahre es immer wieder, selbst bei meinen Wiener Studenten, die sich immerhin mit Film beschäftigen, aber doch in einer ganz naiven Weise mit dem Medium umgehen.
Wie ließe sich solche Naivität aufbrechen?
Haneke: Mittels Schock. Filme müssen einen Nerv treffen. Je schmerzhafter die Wunde ist, umso mehr werden sich die Leute auch dafür und dagegen entscheiden. Das ist es, was ich als Filmemacher will, denn das ist exakt das, was ich selbst will, wenn ich ins Kino gehe. Der Film, der mich in meinem Leben am meisten weitergebracht hat, war Pasolinis „Saló oder die 120 Tage von Sodom“. Der Film hat mich völlig fertig gemacht. Pasolini zeigt Gewalt als das, was sie wirklich ist: das Leiden der Opfer. Das fand ich unerträglich. „Saló“ ist bis heute der Film, der mich am meisten aus der Bahn geworfen hat. Ich habe ihn auch nur einmal gesehen. Damals habe ich mich ununterbrochen gefragt: Halte ich das noch aus? Muss ich jetzt kotzen? Ich war drei Wochen krank nach diesem Film. Er ist ja unerträglich. Aber er hat mich zum Nachdenken gezwungen. In unserer Gesellschaft kann man Kino oder dramatische Kunst im weitesten Sinne nur auf diese Weise verantworten. Man kann sie nicht konsensuell machen. Dann ist man dumm. Oder feige. Oder zynisch.
Teile der Kritik werfen Ihnen insbesondere seit „Funny Games“ vor, dass Ihr Umgang mit Gewalt Selbstzweck sei, dass es Ihnen nur um die Provokation gehe.
Haneke: Ich bin überhaupt kein Provokateur! Da hat man „Funny Games“ falsch verstanden. Ich habe immer geglaubt, dass man diesen Film nur als einen Tritt in die Magengrube verstehen könne. Der Film sollte eine Ohrfeige sein, eine aufdeckende Ohrfeige. Weil mich diese Art, wie Gewalt normalerweise im Kino dargestellt wird, einfach ankotzt. Weil sie immer konsumierbar bleibt, und ich wollte sie einmal unkonsumierbar machen. In einer Diskussion wurde ich einmal gefragt: „Ja, wollen Sie die Leute denn aus dem Kino treiben?“ Darauf habe ich geantwortet: „Schauen Sie: Wer den Film angeschaut hat, der hat ihn offenbar nötig gehabt. Wer ihn nicht nötig hatte, ist vorher rausgegangen. Also kommen Sie mir jetzt nicht und beklagen sich, dass der Film so grausam war. Denn offenbar wollten Sie ihn ja doch sehen, sonst hätten Sie ja gehen können.“
Aber es kann doch wirklich nicht das Ziel sein, den Zuschauer in die Flucht zu schlagen?
Haneke: Doch, in diesem Fall schon. Es ist vielleicht kein Erfolg. Aber wodurch wird das so genannte normale Publikum denn gezwungen, etwas anzuschauen, obwohl es eigentlich widerlich ist? Nur weil es spannend ist? Ich will den Zuschauer zu der Frage verführen, warum er aus diesem Film nicht rausgeht. Im Hollywood-Mainstream zahlt der Zuschauer dafür Geld, dass er seine Aggressionen ausleben kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Das finde ich zynisch.
Diese Position kann aber leicht missverstanden werden.
Haneke: Ich habe kein Problem damit, dass Leute meine Filme missverstehen. Das liegt in der Natur der Sache. Es ist ja ein Thema von allen meinen Filmen, dass Kommunikation eine sehr beschränkte Sache ist.
Sind Sie Zivilisationspessimist?
Haneke: Natürlich.
Warum?
Haneke: Aufgrund von Beobachtungen. Da muss ich gar nicht forschen. Das fällt ins Auge. Ich glaube in der Tat, dass wir alle versaut sind. Durch eine Form von Realitätswiedergabe in den Medien, der wir nicht gewachsen sind. Je jünger Menschen sind, umso weniger sind sie diesen Formen gewachsen. Ich selbst gehöre noch zu der Generation, die ohne Fernsehen aufgewachsen ist.
Aber Kinder haben heute mit acht oder neun Jahren doch eine klare Distanz zu Bildern aus Kino und Fernsehen.
Haneke: Ich halte die Bedingungen, unter denen Kinder heute aufwachsen, die Fernsehen und Kino vom Babyalter an inhalieren, für eine eminente Gefahr. Ihnen fehlt die Fähigkeit zur Distanzierung. Darum polemisiere ich immer wieder über solche Fragen. Nicht, weil ich die Leute für dumm halten würde.
Zugleich arbeiten Sie in Ihren Filmen aber oft mit Kindern. Was suchen Sie da? Eine verlorene Unschuld? Oder eher das Gegenteil davon, einen sehr erwachsenen Sinn für die Wirklichkeit?
Haneke: An eine Unschuld der Kindheit glaube ich nicht. Ich arbeite gern mit Kindern, weil es mit ihnen lustig ist. Außerdem können Kinder nicht lügen, zumindest nicht als Schauspieler. Wenn sie richtig verstehen und empfinden, was sie spielen sollen, dann stimmt jeder Satz. Wenn nicht, kann man machen, was man will, es haut nie hin. Insofern ist die Arbeit mit ihnen leichter als mit mittelmäßigen Schauspielern.
Gibt es Filmemacher, die Sie beeinflusst haben?
Haneke: Inwieweit ich „beeinflusst“ bin, ist Sache der Kritiker. Ich will es gar nicht wissen. Einflüsse, sofern sie bewusst werden, lähmen einen. Es kostet Kraft, zu vermeiden, dass sie sichtbar werden. Bresson hat einmal mit einem Stendhal-Zitat geantwortet: Es sind die anderen Künste, die mich die Kunst des Schreibens gelehrt haben. So könnte ich es auch sagen. Literatur ist mir am wichtigsten. Dann kommt die Musik. Aber ich könnte keinen Einfluss geltend machen. Die beiden Filmemacher, die mich am meisten beeinflusst haben, sind Bresson und Hitchcock – weil beide in ihrem Bereich absolute Meister sind.
Also die Reduktion und die Manipulation?
Haneke: Hitchcock ist ja nur an der Oberfläche ein Manipulator. Wenn man genauer hinschaut, ist er der Analysator der Manipulation. Einfach so die Zuschauer zu manipulieren, ist leicht. Aber der Thrill ist bei ihm nur ein Mittel, um die Geschichte ins Rollen zu bringen. Das gilt auch für meine Filme, für „Funny Games“ oder für „Caché“. Darum gibt es darin auch keine Lösung am Schluss. „Wer es war“, ist völlig uninteressant.
Ist das eine Absage an das Geschichtenerzählen?
Haneke: Nein, aber ich benütze die Geschichte als Vehikel, um etwas erzählen zu können. Was ich will, ist die Irritation der Zuschauer. Nur eine Irritation bewirkt wirklich etwas. Man will ja nicht auf dieselbe Weise aus dem Kino kommen, wie man hineingegangen ist. Das wäre verlorene Zeit. Aber Thriller oder andere Genrestoffe interessieren mich überhaupt nicht. Ich könnte am laufenden Band Thriller drehen. Wenn man das einmal kann, dann kann man es.
Ihre eigenen Filme bedienen sich auch der Reduktion?
Haneke: Ich würde es eher „Aussparen“ nennen. Kinobesucher sind durch die irre Geschwindigkeit heutiger Filme dazu verdammt, nur noch passiv zu reagieren und die Wirklichkeit auf der Leinwand lediglich in Fragmenten wahrzunehmen. Schauen Sie sich doch diese wahnwitzigen Schnitte in einem x-beliebigen Hollywood-Film an! Darum redet man ja von „Zerstreuungskino“, weil die Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes zerstreut werden: in tausend Stücke zerfetzt, durch die Überfülle an Eindrücken innerhalb kürzester Zeit. Man muss dem Zuschauer die Zeit zurückgeben. Zeit, die er braucht, um einen Gedanken zu fassen. Die er braucht, um einen Schritt zurück zu gehen, Distanz zu gewinnen und das Ganze zu betrachten.
Gibt es Einflüsse auf Ihr Werk, die außerhalb des Kinos liegen? Sie haben einst am Theater begonnen.
Haneke: Theater interessiert mich nicht. Das Einzige, was mich daran interessiert, ist Tschechow. Den habe ich aber immer gemieden.
Sie haben dann lange fürs Fernsehen gearbeitet. Auch Ihre ersten eigenen Regiearbeiten sind Fernsehfilme.
Haneke: Ich war beim Südwestfunk, als Redakteur, der jüngste Fernsehdramaturg Deutschlands. Meine erste Regiearbeit hieß „Was kommt danach?“, ein Zwei-Personen-Stück. Dann gab es eine ZDF-Produktion, die Gott sei Dank verschwunden ist, auch bei keiner einzigen Retrospektive je wieder aufgetaucht ist. Dann kam noch „Drei Wege zum See“ nach Ingeborg Bachmann. Heute interessiert mich Fernsehen überhaupt nicht mehr.
Inwiefern ist Ihr Werk von Edgar Allen Poe und von Franz Kafka beeinflusst, über den Sie mal einen Film gedreht haben?
Haneke: Ich kenne Poe überhaupt nicht. Ich habe öfter versucht, etwas von ihm zu lesen, aber es hat mich gelangweilt. Kafka ist für mich etwas ganz anderes. Kafka ist eine der Säulen der Moderne. Deshalb habe ich mich auch an „Das Schloss“ herangewagt.
In „Caché“ treibt ein Videofilm die Handlung voran. Man weiß nicht recht, was er zeigt, aber er scheint eine versteckte Wahrheit zu befördern. Sie selbst betonen aber immer wieder, dass Film ein Mittel der Manipulation und der Lüge ist, nicht eines der Wahrheit.
Haneke: Meine Filme fragen danach, was Wahrheit in den Medien und insbesondere im Kino überhaupt bedeuten kann. Als Filmemacher kann ich nur nach Wahrhaftigkeit fragen. Ich bezweifle, dass ein Zuschauer durch das Betrachten eines Films der Wahrheit näher kommt. Ein Film ist 24 mal Lüge pro Sekunde. Vielleicht dienen diese Lügen einer höheren Wahrheit, aber längst nicht immer. Mein Umgang mit den Bildern will genau diese Frage aufwerfen: Inwieweit man den Bildern über den Weg trauen kann. Man kann es nicht! Weder dem, was man sieht, noch dem, was vermeintlich dahinter steckt, kann man wirklich trauen. Natürlich muss man dazu auch den Zuschauer hart angehen, ihm etwas zumuten. „Caché“ hat offenbar einen Nerv getroffen, und den kann man nur auf eine spaltende, zumutende Weise treffen. Das ist natürlich das absolute Gegenteil zu aller Hollywood-Ästhetik.
Ihre Figuren sind diesmal wieder wohl situierte Bürger.
Haneke: Meine Filme wenden sich an die Zuschauer der reichen Länder Europas. Das ist eine ungemein verwöhnte Gesellschaft, die andere Gebiete der Erde ausnutzt. Diese Gesellschaft erlebt eine Katastrophe; in einem privaten Raum ereilt sie der Schrecken.
In allen Ihren Filmen geht es um die Wiederkehr des Verdrängten. Der Titel spielt darauf an: „Caché“, versteckt, ist nicht nur der geheimnisvolle Beobachter, der die Hauptfigur belauert und terrorisiert, versteckt ist auch eine zentrale Episode aus seiner Vergangenheit.
Haneke: Verdrängung gibt es in allen Ländern. In jedem Land ist sie anders, weil das Verdrängte eine andere Gestalt hat. Es bedarf der Bewusstmachung. Das ist die Aufgabe von Kino: Nicht Zerstreuung, sondern das Nehmen der Sicherheiten. Die Zuschauer sollen sich in Frage stellen. Darum zeige ich Figuren, die sich in Frage stellen, als Stellvertreter des Publikums sozusagen. Aber glauben Sie nicht, dass ich immer die Antwort wüsste. Ich weiß vielleicht eine Frage. Außerdem ist es viel produktiver, dem Publikum Fragen mitzugeben als Antworten.
Was planen Sie als nächstes?
Haneke: Keinen Film. Ich erhole mich mal. Der Druck wird immer größer. Bei jedem Film erwartet man, dass er besser wird als der vorherige. Ich mache jetzt als nächstes eine Oper. Auf meine alten Tage kann ich mir das gönnen. Ich bin ein großer Musik-Fan. Und da 2006 das Mozart-Jahr ist und Mozart-Opern für mich das Non plus ultra sind, inszeniere ich in Paris „Don Giovanni“. Eigentlich wollte ich „Cosi fan tutte“ machen, aber den hat sich Patrice Chereau geschnappt. Die Oper ist im Prinzip viel näher am Kino als das Theater. Ein guter Theaterregisseur ist ja ein Reagierer. Im Film ist das ganz anders. In der Oper gibt es ein strenges Konzept. In der Zeit, in der die Musik von A nach B kommt, muss auch die Szene von A nach B. Das heißt, es ist eine Frage kompletter Planung. Das Pariser Opernpublikum ist genauso reaktionär wie das Wiener. Doch Gérard Mortier wusste, dass er von mir nicht die 365. Inszenierung in Pumphosen bekommt, als er mich um die Inszenierung bat.