Ist Erdogan ein Diktator und missachtet er Menschenrechte - ja
Hat Özil als Deutscher Staatsbürger das Recht ihn trotzdem gut zu finden - ja, Meinungsfreiheit. Genauso hat die AfD Delegation, die nach Syrien gereist ist, das Recht Assad gut zu finden oder Matthäus und Schröder das Recht Putin zu mögen. Da ist es übrigens ein absolut dämliches Argument zu sagen, dass er diese Meinungsfreiheit in der Türkei oder sonstwo ja nicht hätte - das ist ja gerade der Clou an Demokratie, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit: Es umfasst notwendigerweise auch die eigene Abschaffung.
Darf man ihn deshalb kritisieren - ja, ebenfalls Meinungsfreiheit.
Darf man ihn deshalb aus der Mannschaft schmeißen - schwierig, hängt davon ab, ob man bei Fussballern die Vorbildfunktion in den Vordergrund rückt. Historisch war es ja keineswegs so, dass der DFB sich da besonders hervorgetan hätte. Der DFB hat 1978 Hans Ulrich Rudel ins Trainingslager eingeladen und Berti Vogts hat das öffentlich abgefeiert. Ich glaube, dass viele die heute auf Özil draufhauen und das damals miterlebt haben, seinerzeit anderer Meinung waren. Zumal man Vogts ja schlecht vorhalten kann, sich gegen Deutschland entschieden zu haben. Die ganze Causa war seinerzeit schnell erledigt. Wenn der DFB damals irgendeine politische Verantwortung von Fußballern eingefordert hätte, wäre es ein schlechter Witz gewesen.
Aber unter der Prämisse, dass sich die Zeiten mittlerweile geändert haben (was ich bezweifle) - ok, kann man aus dem Kader streichen. Genauso wie man einen Fußballer, der sich mit Höcke fotografiert, hätte aus dem Kader streichen können. Der DFB ist nicht an die Meinungsfreiheit gebunden, sondern kann als privater Verein engere politische Leitlinien vorgeben. Hat man nicht getan, deshalb ist es jetzt müßig drüber zu diskutieren. Dass diese Nachtreten durch den DFB daneben ist, steht ja außer Frage.
Kann man Özil deswegen den Vorwurf machen, nicht wirklich Deutsch zu sein (wie es hier explizit getan wird, oder die BILD implizit tut)? - Nein, da wird es nun wirklich widerlich. Özil vertritt eine unpopuläre Meinung und steht dazu. Genau wie die obigen Beispiele - er bewegt sich damit genau im Rahmen des Grundgesetzes und hat jedes Recht dazu. Toll finden muss man es nicht, aber wenn man ihm nun abspricht Deutsch zu sein, dann zieht man die einzige Karte, die man bei der AfD, Matthäus, Schröder und Konsorten nicht hat - die Abstammung, die Ethnie oder - antiquierter - die Rasse. "Geh doch, wo du herkommst."
Mesut Özil ist deutscher Staatsbürger. Mit genau den gleichen Rechten wie Höcke und der AfD-Assad-Fanclub oder anderen Personen, mit denen man politisch nicht übereinstimmt. Alle gehören dazu. Alle kann man sie kritisieren. Aber nur weil die Eltern vielleicht nicht in Deutschland geboren sind oder man einen fremd klingenden Namen hat, hat man als deutscher Staatsbürger mit Migrantionshintergrund eine 0,0 größere Pflicht irgendwie für Demokratie und Rechtsstaat einzustehen als Horst Müller aus Bottrop-Batenbrock. Im Moment der deutschen Staatsbürgerschaft spielt die Herkunft keine Rolle mehr. Man hat genau das gleiche Recht Dinge jenseits des politischen Mainstreams in Deutschland zu begrüßen, wie alle anderen auch. Wenn ich das negiere, dann differenziere ich rassisch (auch wenn das den meisten nicht mal auffällt). Dafür gibt es ein Wort - Rassismus.
Gibt es irgendeinen gesamtgesellschaftlichen Wertekanon gegen den Özil damit verstoßen hat? - Nein, die AfD sitzt mit über 10 Prozent im Parlament und die CSU fordert Präventivhaft ohne Richterurteil. Dass die Werte des Grundgesetzes in der breiten Masse stark erodieren, ist offensichtlich, sonst wäre derartiges nicht möglich. Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens über Menschenrechte in Deutschland.
Steht es irgendjemandem zu, jetzt den Rassismus Vorwurf durch Özil pauschal für Quatsch zu erklären (Hallo, Herr Bosbach) - Nein. Vor allem nicht denjenigen, die keine Ahnung haben wie es ist mit falschem Namen und falscher Haarfarbe in Deutschland aufzuwachsen. Özil bringt in seinem Statement zumindest zwei Beispiele, die völlig unzweifelhaft rassistisch sind. Das mögen "Einzelfälle" sein, aber niemand hat das Recht sich jetzt hinzustellen und dadurch den Vorwurf des Rassismus ganz zu entkräften. Weil eben niemand anders die Erfahrungen gemacht hat, die Özil gemacht hat. Man stelle sich das ganze Szenario mal im Kontext der #metoo Debatte vor. "Es gibt kein Problem mit sexueller Gewalt, denn die Vergewaltigungen, die sie schildert, sind bedauerliche Einzelfälle."?
Zur Präsentation des Statements - es ist ferner Özils gutes Recht den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie zu folgen und das ganze über den Tag verteilt zu droppen. Angesichts seines Rücktritts und der Brisanz des ersten Teils wäre sein Anliegen in Teil 1 und 2 sonst kaum wahrgenommen worden. Ich finde das nicht weiter verwerflich und nachvollziehbar. Ebenso, dass das natürlich sein Berater geschrieben hat und er das nicht persönlich erklärt - er ist halt kein großer Redner. Machen Politiker auch so.
Was ich dagegen wirklich lächerlich und weinerlich finde, ist das rumgejammere, dass Sponsoren sich von ihm abwenden. Wenn ich in Deutschland offenbar unpopuläre Meinungen vertrete, dann sinkt mein Werbewert, weil ich unpopulärer werde. Kapitalismus halt. Selbst schuld.