Joker schrieb:
Wäre schade, wenn (...) Coca-Coala zukünftig keine Berichte mehr schreiben würde.
Wird wohl nicht passieren. Schliesslich deckte CC mit seinem Bericht alle Kämpfe des Abends ab, Hartmut Scherzer befasst sich exklusiv mit dem Hauptfight (und eigentlich auch das nur am Rande, aber egal). Es sind zwei Berichte, die sich keineswegs widersprechen, sondern durchaus ergänzen.
Für die, die Mühe mit dem eingescannten Text haben:
Auf seine alten Tage wird Sidon schlau, schnell und gefährlich
Der 42 Jahre alte Boxer verteidigt den deutschen Schwegewichtstitel und denkt noch lange nicht ans Aufhören.
Rodheim. „Papa, hau drauf!“ – Die helle Kinderstimme aus dem Hintergrund bewirkte mehr als die Berliner Schnodderschnauze in der ersten Reihe. „Gene, mach Druck!“ Andreas Sidon hörte auf den Zuruf seiner 7jährigen Tochter Mandana und sagte prompt seinem Herausforderer Gene Pukall im Ring das Ende an: „Jetzt hau’ich dich weg.“ Sprach’s und schlug ihm die Rechte auf den Bauch. Pukall knickte ächzend ein und wurde angezählt. Nach dem nächsten rechten Faustschlag aufs Kinn sackte der Berliner zu Boden. Mit ausgebreiteten Armen stellte sich Sidon in Siegerpose über den knienden Gegner. Pukall stand zwar wieder auf, war aber beim Gong, der die achte Runde beendete, stehend k.o. Nach dreissig Sekunden der neunten Runde warf sein Sekundant das Handtuch.
Mit 42 Jahren hat Andreas Sidon die deutsche Meisterschaft im Schwergewicht abermals verteidigt und will nun, so seine Ankündigung, „noch bis 45 boxen. Das mache ich locker.“ Denn das Alter habe ihn schlau gemacht. Der 1.97 Meter grosse Athlet hat sein Gewicht um 10 auf 99 Kilo gedrückt. „So leicht war ich noch nie. Dadurch bin ich schneller und lockerer geworden“, schwärmte er von der neuen Leichtigkeit des Schwergewichtsboxens. „Es macht richtig Spass.“ In der Tat hat der Autodidakt seinen ungelenken, schwerfälligen Kampfstil mit ständigem Halten und Klammern grundlegend verändert. Von wegen, man könne alten Hasen keine neuen Tricks beibringen.
Sidon, sonnengebräunt und austrainiert, bewegte sich auf einmal behände auf schnellen Beinen, stocherte mit der Linken in Pukalls Gesicht, haute ihm im ständigen Rückwärtsgang die Rechte an den Kopf und auf den Bauch, war beweglich und pendelte reflexartig dessen Schwinger aus. Nun war der dreissig Jahre alte Pukall trotz seiner zuletzt acht Siege in Folge alles andere als ein guter Boxer, sondern nur ein einfältiger Haudrauf, trug aber mit seinem unermüdlichen Vorwärtstrott zum unterhaltsamen und aktionsgeladenen Kampf bei.
Zuruf aus der ersten Reihe von seinem Manager Winfried „Wino“ Spiering: „Gut so, Gene, aber du musst auch mal treffen! Geh zur Sache! Wir haben ein paar Freunde hier.“ Die Freunde waren ein halbes Dutzend zum Teil ergrauter und beleibter Hells Angels aus der Frankfurter Szene, die sich mit dem alten Berliner Kumpel amüsante Wortwechsel boten. Als Sidon in der sechsten Runde einen Durchhänger hatte, ermutigte Spiering seinen Kämpfer: „Das sind nur noch Faxen. Der ist fertig.“ Widerspruch der Freunde: „Deiner ist auch nicht mehr frisch, Wino.“
Nun war die Biebertaler Boxnacht beileibe kein anstössiges Milieutreffen aus der Grossstadt, sondern ein geselliger Samstagabend für knapp tausend brave und biedere Bürger aus der Provinz, die zwischen 12 und 80 Euro für das lokale Ereignis in der Sporthalle zahlten. Adrette Teenager in schwarzer Abendrobe wie für die Tanzschule trugen die Nummerntafeln für die Runden durch den Boxring – züchtig, nicht sexy. Der Vater des einen Mädchens war der Moderator und Ringsprecher. Nach wenig aufregenden Rahmen- und Kickboxkämpfen sowie einem einseitigen Frauenduell kam das Publikum erst bei Andreas Sidon in Stimmung. Denn in der Giessener Region ist der alleinerziehende Vater dreier Kinder eine populäre Grösse. Sidon wohnt in Albach, auf der anderen Seite der mittelhessischen Stadt. Als Veranstalter trat der örtliche Wein- und Sekthändler auf, der sich das finanzielle Risiko mit einem Sponsor aus der Finanzbranche teilte. Dem Weinkaufmann Reiner Rau, Zweitem Vorsitzenden des Gewerbevereins, liegt es am Herzen, dem Gemeindeverbund von sieben Ortschaften am Fusse der Burgen Vetzberg und Greiberg „aus dem Schlaf zu wecken“.
Seit Sidon bei der jährlichen Gewerbeschau in Biebertal mit Schauboxen zur Attraktion wurde und „die Leute glänzende Augen bekamen“, so Rau, wurde der Titelkampf Teil der „neuen Kulturinitiative“. Der Bürgermeister von Fernwald, der vor einem Jahr mit der Meisterschaft Sidon gegen Fischer beste Erfahrungen gemacht hatte, stand mit Rat zur Seite.
Rund um den Giessener Autobahnring können die Ortschaften also weiter mit deutschen Schwergewichtsmeisterschaften rechnen. Nicht nur, weil Andreas Sidon – er wird am 2. Februar 2006 43 Jahre alt – noch lange nicht ans Aufhören denkt, sondern weil sich in der Gewichtsklasse der Max Schmeling, Karl Mildenberger und Axel Schulz in Deutschland nur noch Taugenichtse für den einst prestigeträchtigen Titel interessieren. Die schweren Jungs von Wilfried Sauerland wie Timo Hoffmann und Cengiz Koc boxen mit österreichischer Lizenz und haben den Anspruch auf einen deutschen Titel verwirkt. Luan Krasniqi, die neue Attraktion von Klaus-Peter Kohl, schwebt nur noch auf höchster internationaler Ebene. Willi Fischer, der Sidon einmal nach Punkten besiegte und einmal nach Punkten gegen ihn verlor, verspürt derzeit keine Lust zu einem dritten Kampf.
Marcel Zeller, ein Nichtskönner aus Karlsruhe im Schottenrock, den ein untrainierter, schmalbrüstiger rumänischer Clown lächerlich machte, bis das Handtuch seines Sekundanten die Lachnummer beendete, soll nun der offizielle Herausforderer werden. Andreas Sidon ist nicht begeistert. Der Meister wünscht sich einen seriöseren Gegner, den unbesiegten Egon Roth aus dem Hamburger Boxstall Universum. Den Schweiss noch auf der Stirn und die kleine Mandana auf dem Arm, sagte Sidon: „Ich hoffe, Roth kneift nicht.“ HARTMUT SCHERZER