Thiagos Klasse ist bis jetzt leider noch eher Mythos. Wann war Thiago Praktisch (nicht theoretisch) Weltklasse und hat seine Mannschaft angeführt? Sein Markwert/ Ruf rührt aus seiner Herkunft (Barca)und seinem Talent, das unbestritten riesig ist [....]
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Sehe ich anders. Ich bin von Thiagos Persönlichkeit bisher absolut beeindruckt. Der Mann hat ein unfassbares Selbstvertrauen, hat nach seiner Verletzung mit einer Selbstverständlichkeit Bälle gefordert, verarbeitet und das Spiel geprägt, das fand ich schon sehr, sehr stark. Dieses "hat bisher nichts gezeigt" ist aus meiner Sicht keine besonders haltbare These. Er hat in einem Do-or-die-Viertelfinale schlichtweg dominiert, im Pokalspiel gegen den BVB war er bis zu seiner Auswechslung der beste Mann auf dem Platz. Ich verstehe die Argumentation, dass sich der Transfer bisher nicht rentiert hat. Das liegt aber aus meiner Sicht alleine an der Verletzungsgeschichte. Für das was er auf dem Platz gezeigt hat, hat man sicherlich nicht einen einzigen Cent zuviel bezahlt.
Den Vergleich zu Gündogan sehe ich jetzt auch nicht so zwingend. Thiago ist für mich defensiver und deutlich passorientierter. Gündogan läuft vielmehr mit dem Ball und taucht auch öfter mit dem Ball in der Nähe des gegnerischen Tors auf. Thiago hat dafür einen sehr guten Torriecher und ist im Defensivzweikampf deutlich stärker. Vergleicht man die offensiven Spielanlagen von Bayern und Dortmund glaube ich, dass beide jeweils in dem System spielen, das ihren Stärken entgegen kommt.
Zum Spiel:
Ich verstehe den Gündogan-Schweinsteiger Vergleich ehrlich gesagt kein Stück. Schweinsteiger war der defensive 6er, Gündogan ist als 10er reingekommen. Vielleicht sollte man Löw eher fragen warum er Özil statt Gündogan aufgestellt hat. Natürlich beherrscht Gündogan in Ballmitnahme und Dribbling Dinge, die selbst ein 26-jähriger Schweinsteiger nur von Ronaldinho Videos bei Youtube kannte. Aber das war doch heute überhaupt nicht gefragt. Schweinsteigers Hauptaufgabe war es in der Defensive Bindeglied zwischen Abwehrkette und dem brutal offensiven Rest der Mannschaft herzustellen. Eine Aufgabe, die er speziell in der zweiten Halbzeit sehr gut gelöst hat aus meiner Sicht. Die deutsche Mannschaft hatte offensiv genug Kreativität auf dem Platz, Schweinsteigers Aufstellung war völlig legitim. Ich habe Gündogan diese Saison noch nicht spielen sehen, aber was ich letzte Saison defensiv von ihm gesehen habe, hatte mit Erstligafußball nicht viel zu tun. Heute war er natürlich sehr präsent, leider hat er seine vielen überragenden Szenen aber nicht gekrönt, weil er in drei Szenen den Ball einen Tick zu spät gespielt hat. Damit man Löw und Flick ihre "er ist unglaublich nah an der Startaufstellung dran"-Schiene auch abkauft, sollte er gegen Schottland 90 Minuten sehen. Ich freue mich aber im Hinblick auf 2016, dass er wieder auf dem Damm ist. Wenn Reus Bakalorz aus seinem Kopf rauskriegt, hat man zwei "Neuzugänge", die in Sachen Dynamik im Mittelfeld und Abschlussstärke das Spiel in ganz andere Dimensionen heben.
Ansonsten war das heute ein sehr erfreuliches Spiel. Wirklich abgefallen ist eigentlich niemand. Can war natürlich etwas wild, Hector hat in der Anfangsphase zuviele Flanken zugelassen, aber in puncto Zweikampfstärke war das schon sehr gut. Am schwächsten fand ich eigentlich Müller, aber der hat immerhin getroffen und hat sehr viele gute Wege gemacht - auch defensiv. Kroos Ballsicherheit hat dem polnischen Mittelfeld komplett den Zahn gezogen, Schweinsteiger hatte in der zweiten Hälfte ein super Stellungsspiel. Boateng war hinten sehr gut, dazu mit phasenweise starkem Spielaufbau. Hummels fand ich etwas schwächer, er hatte aber auch den schwierigeren Job, weil er sich zumeist um Lewandowski kümmern musste. Bellarabi braucht mir zu lange im Abschluss, sein Spiel gegen den Ball ist dafür bockstark. Götze sehr torgefährlich, hätte aber einmal lieber auf Can ablegen sollen statt aus der Drehung zu schießen. Neuer mit zwei sehr schwachen Abstößen, den zweiten hat er dann immerhin mit einer sehr guten Parade wieder ausgebügelt.
Positiv: Die Mannschaft hat auf jeden Fall den Eindruck vermittelt, dass sie wusste um was es geht und das sie nicht versucht hat irgendwie mit möglichst wenig Aufwand ("Ach, Schottland hat verloren...dann sind wir ja quasi Zweiter und dabei) ein möglichst gutes Resultat herauszuholen. Ich glaube die Spieler haben heute mehr Zweikämpfe geführt, als in der ganzen EM-Qualifikation zuvor - und davon auch sehr viele und vor allem wichtige gewonnen. Von der 70. bis zur 75. Minute hatte Polen glaube ich insgesamt drei Sekunden den Ball. Wenn man dem Team Platz gibt, bringen sie schon extrem viel PS auf den Rasen. Sehr schön und vor allem wichtig.