Wie viele aktive Profifußballer gibt es allein in Deutschland? 1200? Wie viele gab es in den letzten 10 Jahren? Wie viele gibt es in ganz Europa?
Kein Plan, aber die Zahl ist extrem hoch. Hinzu kommen zahlreiche junge Spieler die mal in den Profibereich reingeschnuppert und es letztlich nicht gepackt haben. Für mich ist es irgendwie schwer vorstellbar, dass man einem 18-jährigen sagt: "Hör mal zu, du bist jetzt bei den Profis. Du musst jetzt das, das und das nehmen und dann noch das da, damit man dir nichts nachweisen kann." Der Junge packt es dann nicht bei den Profis und wird Handwerker und er packt trotzdem nicht aus? In den Profifußball sind so extrem viele Leute involviert (Berater, Trainer, Betreuer, Mediziner etc.) und trotzdem gab es in den letzten 15 Jahren keinen einzigen Wichtigmacher? Theoretisch müssten ja ca. 50.000-100.000 Menschen darüber Bescheid wissen. Halten die wirklich alle zusammen? Für mich ist es einfach schwer vorstellbar, dass da rein gar nichts an die Öffentlichkeit dringt. Es gibt doch eigentlich genug verbitterte und gehässige Seelen (gefallene Spieler, alkoholkranke Trainer, betrogene Berater etc.) auf der Welt, die damit sofort an die Presse gehen würden.
Vielleicht bin ich naiv, aber für mich ist das echt eine krasse Vorstellung, dass im Profifußball flächendeckend gedopt wird. Die Übergänge in diesem Bereich sind ja fließend und es widerspricht eigentlich der Natur des Menschen Geheimnisse für sich zu behalten.
Das ist sicher ein berechtigter Einwand. Ich kann mir aber vorstellen, dass viel von dem, was sich abspielt, einfach nicht an die Oberfläche dringt. Ich hab schon erwähnt, dass zu den Profiteuren des Profifußballs auch die Medien gehören. Aber nicht nur Haus- und Hofberichterstatter (Marca), nicht nur Fachblätter wie der Kicker. Sondern auch jede lumpige Regionalzeitung mit einem Sportteil! Denn Fußball nimmt im Sporteil einer Zeitung für gewöhnlich zwei Drittel des Platzes ein. Einfach weil auch Zeitungen marktwirtschaftlichen Zwängen unterworfen sind und Fußball für die breite Öffentlichkeit eben der Sport vom größten Interesse ist. Eine Randsportart wie Radfahren kann man ohne allzu große negative Konsequenzen aus den Medien verbannen, aber was würde es wohl für die Abozahlen einer Zeitung bedeuten, wenn nicht mehr über Fußball berichtet würde? Und da stecken die Redakteure eben in der Zwickmühle: Denn wenn sie sich kritisch zum Thema Doping im Fußball äußern, dabei aber weiter umfangreich über eben diesen Sport berichten - dann sind sie Heuchler. Wenn sie hingegen die Berichterstattung reduzieren - dann entziehen sie sich selbst ihre Existenzgrundlage. Deshalb ignorieren die meisten Medien das Thema einfach und tun so, als gebe es solch eine Problematik gar nicht. Denn wer beißt schon die Hand, die einen füttert? Vom Druck, der eventuell von oberster Stelle auf die Medien ausgeübt wird, weil (Profi)fußball ein immens wichtiger Wirtschaftsfaktor ist, an dem unvorstellbar viele Arbeitsplätze hängen, will ich erst gar nicht groß reden. Aber dass man ein Gebilde, wie den Fußball, von dessen Glanz so viele und so mächtige global player profitieren, nicht diskreditieren kann, ohne eine gesalzene Gegenreaktion zu provozieren, versteht sich glaub ich von von selbst. Camaron hat ja oben sehr schön beschrieben, dass diejenigen, die auspacken, schnell als Versager stigmatisiert werden. Als diejenigen, die es nicht gepackt haben und sich nun rächen wollen. Ich denke jedenfalls, dass ein Journalist, der für sich selbst entscheidet, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass der Fußball vollkommen sauber ist und daraufhin Nachforschungen anstellt, eventuell schnell von seiner Redaktion zurückgepfiffen wird. Zusammengefasst: Es besteht ein ungeheures (wirtschaftliches) Interesse für viele verschiedene Parteien, dass der Fußball weiterhin sauber erscheint. Selbst große Teile der Fernsehzuschauer sind Teil dieses Interesses. Denn viele wollen vermutlich gar nicht wissen, was sich hinter den Kulissen abspielt. Fußballvereine und auch der Fußball an sich sind für viele Menschen eben mehr als nur ein Hobby, sondern Lebensinhalt. Wer will schon hören, dass seine Helden nicht mit fairen Mitteln kämpfen? Wer will schon seine Seifenblase platzen sehen?
Wenn nun also dein enttäuschter 18-jähriger Handwerker in der Zeitungsredaktion erscheint und erzählt, dass der Fußballsport ein Drogensumpf ist - was glaubst du, passiert da? Drei von hundert Journalisten sind eventuell so idealistisch und verfolgen den Vorwurf weiter. Aber spätestens dem gegenlesenden Chefredakteur, der gerade mit seiner schwangeren Frau ein Eigenheim abbezahlt (dramatische Übertreibung), bricht dann doch der kalte Schweiss aus. Was, wenn eine der Quellen seine Aussage zurückzieht und man ohne Beweise dasteht? Was wenn man dann von einer Klageflut wegen Rufmord überschwemmt wird?
Die "Wichtigmacher", die du erwähnst, gibt es ja. Aber nicht jeder Kritiker wird Teil des Diskurses. Wer kritisiert, muss innerhalb des Fußballzirkus' zumindest eine gewisse Berühmtheit erlangt haben, wenn er es in die Zeitungen schaffen will. Beispielsweise durfte der Bundesligatrainer Peter Neururer in einem Zeitungsinterview sagen, dass zu seiner Zeit (Ende der 80er) praktisch jeder Spieler Captagon und Ephedrine geschluckt hat. Und hier sieht man wieder, wie perfide und wasserdicht das System ist: Wer öffentlichkeitswirksam "aussagen" darf, muss eine prominente Stellung im Fußball inne gehabt haben. Folglich muss er das System angreifen, von dem er bis dato profitiert hat. Aber wie will jemand anschließend weiter in dem System arbeiten, das er diskreditiert? Mit anderen Worten: Neururer hat es nur in die Zeitung geschafft, weil er ein (relativ) bekannter und erfolgreicher Trainer ist. Er darf aber im Prinzip nur sagen, "die haben früher gestofft". Denn welche Chance hätte er, jemals wieder eine Stelle im Profifußball zu finden, wenn er sagen würde "die stoffen heute immer noch". Mal ganz abgesehen, von der Diffamierungswelle, die ihm wohl blühen würde, würde er so etwas öffentlich machen (es kämen wohl Dementis à la "Peter Neururer ist nur ein enttäuschter Mensch, der keine Beweise für seine infamen Unterstellungen hat und aus purer Boshaftigkeit unserem Sport schaden will, weil er letztendlich keinen Erfolg mehr hatte...")
Klar ist es seltsam, dass kaum etwas zum Thema Doping im Fußball an die Öffentlichkeit dringt. Aber ich halte es einfach für sehr unwahrscheinlich, dass man mit der Praktik des Dopens quasi über Nacht aufgehört haben soll. Und das in einem Sport, in dem es um so immens viel Geld geht und in dem für gewöhnlich nichts dem Zufall überlassen wird...
Ich kann nur noch einmal den tollen und traurigen Artikel der 11 Freunde bezüglich Doping in Italien empfehlen.
Hier einige Auszüge:
Doping im Fußball gibt es nicht? Eine unheimliche Welle von Todesfällen und schweren Krankheiten ereilt ehemalige Fußballprofis in Italien. Vermutlich sind sie Opfer von Doping.
Alle Spieler schluckten die Pillen, die die Mannschaftsärzte auf einem kleinen Tellerchen in der Kabine wie Weihnachtskekse anboten. Tabletten und Infusionen waren so selbstverständlich, wie Stollen an die Schuhe zu schrauben. (...)
Dabei fällt es schwer, die Opfer zu ignorieren. Denn allein beim AC Florenz, wo Giancarlo Galdiolo von 1970 bis 1980 einen wegen seiner Härte gefürchteten Manndecker gab, traten etliche ähnliche Fälle auf: Armando Segato, 1973 mit 43 Jahren an ALS gestorben. Fulvio Bernardini, 1984 mit 79 Jahren ebenfalls an ALS gestorben. Der ehemalige Fiorentina-Jugendspieler Mario Sforzi erlag mit 48 Jahren einer bösartigen Erkrankung des lymphatischen Systems, und Adriano Lombardi starb 2007 mit 62 an ALS. Dazu kommen jene, mit denen Galdiolo sogar in einer Mannschaft spielte: Stürmer Nello Saltutti erlag mit 56 Jahren einem Infarkt. Libero Ugo Ferrante starb mit 59 an einem Mandeltumor, Verteidiger Giuseppe Longoni mit 64 an einer Herzkrankheit, Torwart Massimo Mattolini 56-jährig an einem Nierenleiden. Der jüngste war Bruno Beatrice, Antreiber im Mittelfeld, unermüdlich wie ein Tier. Mit 39 Jahren starb er an Leukämie. Auch einige Mitspieler Galdiolos, die noch leben, sind gezeichnet. Mittelfeldspieler Domenico Caso überlebte einen Lebertumor, Weltmeister und Publikumsliebling Giancarlo Antognoni erlitt 2004 bei einem Freundschaftsspiel einen Infarkt, den die Ärzte als »anormal« einstuften, und Europameister Giancarlo De Sisti hatte einen seltsamen Gehirnabszess. Stefano Borgonovo, der erst zwischen 1988 und 1992 in Florenz aktiv war, leidet an ALS. Weil niemand die Reihe von Toten und Kranken schlüssig erklären kann, ist im Volksmund vom »Fluch der Fiorentina« die Rede. (...)
In Turin ermittelt Staatsanwalt Raffaele Guariniello seit über zehn Jahren in dieser Frage. Er untersuchte 24 000 Biografien von Fußballern, die zwischen 1960 und 1996 in den drei höchsten italienischen Spielklassen aktiv waren, und fand heraus, dass im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt bei Fußballern doppelt so oft Bauchspeichel-, Darm- und Leberkrebs vorkam. Vor allem wundert ihn, dass es unter den 24 000 Spielern bis heute mehr als 50 ALS-Fälle gibt, auffällig viele davon in Florenz. Normalerweise kommt die Krankheit bei einem von 100 000 Menschen vor. (...)
Die Ermittlungen wurden aber dadurch behindert, dass die medizinischen Unterlagen des AC Florenz aus dieser Zeit allesamt unauffindbar waren. 2009 schließlich mussten die Nachforschungen ganz eingestellt werden, weil das Delikt wegen der Einführung eines neuen Gesetzes verjährt war. Zum Prozess gegen den damaligen Fiorentina-Trainer Carlo Mazzone und zwei Vereinsärzte wegen Körperverletzung mit Todesfolge kam es nie.
Hier der Link zum ganzen Artikel
http://www.11freunde.de/artikel/doping-mysterioese-todesfaelle-bei-italienischen-ex-profis