Wie darf man sich einen Charterflug nach Australien mit Dominic Thiem, Novak Djoković und Rafael Nadal samt Entourage an Bord vorstellen? Spielen die drei besten Tennisspieler der Welt Würfelpoker oder unterhalten sich stundenlang über Tennis?
Dominic Thiem: Ich habe Novak und Rafa nur ganz kurz beim Einsteigen in Barcelona und beim Aussteigen in Adelaide gesehen. Im Flugzeug sind wir in verschiedenen Bereichen gesessen. Novak saß vorn, Rafa hinten – und ich mit Dennis Novak und meinem Physio Alex Stober in der Mitte.
Also konnten Sie während der 14-tägigen Quarantäne in Adelaide auch nicht mit den beiden trainieren?
Es wäre geplant gewesen, nach der ersten Trainingswoche mit Dennis durchzutauschen, aber dazu kam es nicht, weil es auch den anderen Spielern in Melbourne nicht erlaubt wurde. Jeder durfte nur mit einem Spieler trainieren. Erst seit Samstag dürfen wir in Melbourne trainieren, mit wem wir wollen.
Dabei war der Aufschrei einiger Spieler in Melbourne groß, wonach die Top drei Privilegien genießen würden. Es war auch von einem eigenen Fitnessraum im Hotelzimmer die Rede.
Es gab einige kritische Stimmen, ja, aber für sehr viele war es auch völlig in Ordnung. Einige Topspieler in Melbourne haben ebenfalls größere Zimmer bezogen, dennoch durfte jeder Spieler nur für fünf Stunden am Tag sein Zimmer verlassen, in dieser Zeit gehen sich etwa zwei Stunden Tennistraining aus. In Adelaide war nur weniger los, es war ruhiger.
Also ist der eigene Fitnessraum eine Mär?
Ja. Ich hatte ein Laufband und einen Ergometer hier.
Wirklich hart getroffen hat es über 70 Aktive und Betreuer, die zwei Wochen in ihren Zimmern verharren mussten, weil auf ihren Flügen bei der Ankunft positiv getestete Personen waren. Ist das nicht ein uneinholbarer Wettbewerbsnachteil kurz vor einem Grand-Slam-Turnier?
Absolut, diese Spieler haben einen wahnsinnigen Wettbewerbsnachteil. Aber man muss die Australier verstehen, sie wollen das Virus nicht wieder einschleppen – und wir Spieler wussten von den Regularien, wenn ein solcher Fall nach dem Flug eintritt.
Ihr Trainer, Nicolás Massú, wurde noch vor der geplanten Reise nach Australien positiv getestet und steht Ihnen beim ersten Grand Slam des Jahres nun nicht zur Verfügung. Wie schwer wiegt sein Ausfall?
Natürlich hätte ich Nico gern dabeigehabt, aber mir war klar, dass es richtig eng wird, nachdem er positiv getestet wurde. Auch wenn alles perfekt geklappt hätte – die Genesung, die Einreise – hätte Nico erst einen Tag vor Turnierbeginn hier sein können. Ich habe mich schon frühzeitig darauf eingestellt, dass er fehlen wird. Wir werden uns regelmäßig austauschen, Nico wird die Matches analysieren, mich auf die Gegner vorbereiten. Das Training vor Ort übernimmt mein Vater, der ja schon oft mit dabei war. Meine Leistung sollte das alles nicht beeinflussen.
Sie haben vor einem Jahr ein episches Melbourne-Finale gegen Novak Djoković nach 2:1-Satzführung noch in fünf Sätzen verloren. Was hat Sie damals den Sieg gekostet?
Mir hat das gesamte Turnier, diese zweiwöchige Reise bis in mein erstes Australian-Open-Finale, irrsinnig getaugt. Ich würde sogar behaupten, dass es mein bestes Turnier überhaupt war, ich über den Zeitraum von 14 Tagen betrachtet mein bestes Tennis gespielt habe. Im Finale habe ich im vierten und fünften Satz zwei kleine falsche Entscheidungen getroffen, das war's. Aber ich kann mir nichts vorwerfen.
Es heißt, aus Niederlagen lernt man mehr als aus Siegen. Was haben Sie in diesen 3:59 Stunden gelernt?
Ich halte diese These generell schon für richtig, aber diese Niederlage war einfach nur bitter, sie hat richtig, richtig wehgetan, weil ich so nah am absoluten Karriereziel dran war. Gelernt habe ich da nichts.
Bei den US Open in New York haben Sie sich im September schließlich Ihren Lebenstraum erfüllt – und waren in der Annahme, dass Sie bei Turnieren künftig weniger Druck verspüren würden. Ein Trugschluss?
Absolut. Ich habe geglaubt, dass nach diesem Sieg alles leichter von der Hand geht, aber das ist definitiv nicht der Fall. Ich war schon beim Turnier in Wien wieder sehr nervös, und bei den ATP-Finals in London habe ich mich in den Tiebreaks gegen Rafa und Novak um keinen Deut lockerer gefühlt. Als Sportler bist du einfach angespannt, nervös, wirst in engen Situationen „tight“. Jetzt weiß ich, dass sich dieses Gefühl bis zum Ende meiner Karriere auch nicht mehr ändern wird.
Beschreiben Sie bitte dieses Gefühl.
Schön ist es nicht, aber es hat schon einen gewissen Reiz. Wenn du in einem großen Spiel Matchball hast und den zweiten Aufschlag servierst, wird der Arm einfach unfassbar schwer. Am ehesten ist es vielleicht mit dem Gefühl zu vergleichen, das ein Schüler vor einer schweren und wichtigen Prüfung hat, wobei ich in der Schule damals nicht so viel zu verlieren hatte wie heute auf dem Tennisplatz. Ich werde dieses Gefühl nach meinem Karriereende jedenfalls nicht vermissen.
Sie wollen im Sommer in Tokio aufschlagen, obwohl Sie Olympia lange Zeit wenig Bedeutung gegeben haben. Was hat Sie zum Umdenken bewogen?
Ein erstes kleines Umdenken hat 2016 stattgefunden, nachdem ich das Olympia-Finale in Rio zwischen Murray und del Potro gesehen hatte. Für mich ist es wichtig, dass ich eine realistische Chance auf eine Medaille habe, und genau die habe ich mittlerweile. Eine Medaille wäre eine Riesensache.
Abseits des Tennisplatzes beschäftigt Sie der Rechtsstreit mit Ihrem Ex-Trainer Günter Bresnik. Können Sie solche Nebenschauplätze gut ausblenden – oder sind Sie doch ein sehr kopflastiger Mensch?
Definitiv, ich mache mir richtig viele Gedanken. Ganz reibungslos verläuft das Leben doch nie, es gibt immer irgendetwas, das einen beschäftigt. Aber sobald ich den Platz betrete, kann ich all diese Gedanken hinter mir lassen.
Für mich war Ihr Rückhand-Slice im Jahr 2020 der am meisten verbesserte Schlag. Welcher wird Dominic Thiems Schlag des Jahres 2021?
Hoffentlich der Volley, wir haben ihn in der Vorbereitung viel trainiert, ich wollte auch den Übergang ans Netz verbessern. Und was den Slice betrifft, stimme ich Ihnen zu. Ich habe den Griff etwas verändert, das hat geholfen. In der Coronapause war es mein Ziel, dass die Rückhand genauso gut wird wie die Vorhand.
Wer steht am Jahresende in den Top fünf?
Djoković, Nadal, Medwedew, Zverev – und Thiem. In welcher Reihenfolge, ist noch offen.
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