Dieser Schluss ist leider nicht gut gealtert. Selbst Michael Schmidt (!) und diverse Analysen (siehe unten) bestätigen mittlerweile, dass von einem Knieschuss nicht die Rede sein kann. Vielmehr sind zahlreiche Faktoren zu beachten, die für Mercedes einfach ungewiss und vage waren:
a) Undercut VER: Dass 2,8 Sekunden für eine Runde später stoppen nicht reichen würden, war ihnen schlicht nicht klar und wurde so auch nicht in der Strategiesoftware angezeigt. Sie wussten schlicht nicht, wie massiv stark der Undercut ist und es gab gute Gründe, erst einmal zu schauen, ob VER wirklich kommt. Zum Nichtwissen sei angemerkt, dass der ähnlich starke Undercut von RIC parallel passierte, nicht nachher. Auch hat VER seine Zeit erst im letzten Sektor seiner 19. Runde reingeholt, wie Joylon Palmer trefflich analysiert. In Hindsight, es wäre besser gewesen, sofort nach BOT zu kommen. Hätten sie das aber wissen können? Nein, nicht wirklich.
b) Zweiter Stop VER: Zwei zentrale Aspekte werden hier vergessen. Die Strecke war nach Regen in der Nacht "green", d.h. der ganze schöne Rubber war weggespült wurden. In der Folge rutschten und grainten die Boliden mehr, was die initialen C3 nicht so lange halten ließ wie gedacht. Ferner brachte RB einen massiv kleineren Heckflügel als Mercedes, der ihnen einen substantiellen Vorteil auf den Geraden bot. Folglich war es für einen RB viel einfacher einen Mercedes zu überholen, umgekehrt war es viel schwieriger (über die Gründe, warum RB das konnte, schweige ich mich hier aus). Wie Driver61 trefflich analysiert, Mercedes war damit beim zweiten Stop von VER im Niemandsland gefangen. Selbst wenn man proaktiv vor VER auf zwei Stops gegangen wäre, hätte man mit dem Geschwindigkeitsnachteil (siehe Heckflügel) PER nur schwerlich überholen können (der ja viel später stoppte als die anderen und als Reifenflüsterer wohl keinen Einbruch bei einer 1-Stopp-Strategie erlebt hätte). Ein Nachziehen hätte nur dafür gesorgt, dass PER VER vorbei winkt und HAM beschäftigt. Ergo bleibt nur die 1-Stopp-Strategie. Genau jetzt kommen die Reifen ins Spiel. Als VERs Reifen abzubauen begannen, verbesserte sich durch die gefahrenen Runden der Grip so sehr, dass dies die Degradation mehr als kompensierte. VER konnte also länger auf den C3 pushen als gedacht (siehe Peter Windsor).
c) BOT nicht auf C4: Kurzum, purer Hindsight. Die Entscheidung der Stewards war so nicht absehbar, keiner wusste wie viel Reifen PER noch haben würde und wie sich die Abstände entwickeln würden. Als die Entscheidung zum Stop hätte kommen müssen, fuhr PER nicht so viel schneller (Runde 51, -0,9 Sekunden, sieh Racefans-Lap Charts), dass < 5 Sekunden Abstand für eine mögliche Strafe unmöglich gewesen wären. Hätte ich es entscheiden müssen, hätte ich wohl auch lieber zwei sichere Punkte Differenz eingesteckt als sechs gefährdete Punkte, aber ins Knie schießen sieht anders aus. Sich bewusst gegen ein höheres Risiko und mehr Ausbeute entscheiden, haben wir in der Vergangenheit Mercedes angekreidet. Jetzt wo sie es mal, mit gutem Grund, taten, ist es sofort falsch? I don't think so.
Nein, ich sehe es weiter als Knieschuss.
Gewiss, es gab Faktoren die Mercedes schwer einschätzen konnte ... aber dennoch spielte das eigene Agieren vermutlich eine große Rolle dafür, dass die Niederlage zustande kam.
Ja, Perez war ein äußert wichtiger Faktor bei der Abwägung, ob zwei Stops eingelegt werden können und sollten ... oder nicht.
Perez war für Verstappen kein Hindernis, unterband aber gewissermaßen etwaige Überlegungen bei Mercedes, einen zweiten Stop proaktiv anzugehen.
Bottas war gewiss sehr angepisst nach dem Rennen, weil Perez ihn seiner Ansicht nach kassiert hatte, weil er einen Stop zu wenig gemacht habe.
Aber es bleibt sehr fraglich, ob Bottas an Perez vorbei gekommen wäre, wenn er sich nochmal andere Reifen geholt hätte.
Zu a)
Ja klar, ob der Undercut gelingt oder nicht, das konnte man bei Mercedes nicht definitiv wissen.
Man konnte sich die Rundenzeiten von Leclerc angucken, aber daraus sicherlich nicht vollständig ableiten, was das für die Rundenzeiten von Verstappen bedeuten könnte.
Der Undercut von Ricciardo fand übrigens nicht parallel statt, sondern knapp vorher.
Ricciardo kam eine Runde vor Bottas in die Box und Sainz kam in der gleichen Runde wie Bottas in die Box und rutschte durch die beiden Undercuts hinter Leclerc und Ricciardo.
Ricciardo war mehr als 2 Sekunden hinter Sainz. Der Abstand zwischen Hamilton und Verstappen war nicht mal eine Sekunde größer.
Das Gelingen des Ricciardo-Undercuts war vor dem Verstappen-Boxenstop erkennbar.
Somit war abzusehen, dass Verstappen reinkommen sollte, wenn er nicht hinter Bottas rutschen will.
Somit war auch klar, dass weniger eine Sekunde entscheiden kann, ob Hamilton vor Verstappen bleibt, wenn er nach diesem in die Box kommt.
Wie dem auch sei ... das spielt alles eine untergeordnete Runde.
Verstappen hat das Rennen nicht (nur) gewonnen, weil er beim ersten Boxenstop vor Hamilton rauskommt, sondern er hat das Rennen auch gewonnen, weil er den zweiten Boxenstop machen konnte - während sich dieser für Mercedes (wegen Perez) weniger anbot.
Hätte der Undercut für Verstappen nicht geklappt, dann wäre es nochmal umso wahrscheinlicher gewesen, dass er einen zweiten Boxenstop einlegt.
Mit dieser Aussicht hätte er im zweiten Stint auch genug pushen können, um an Hamilton dran zu bleiben.
Mit einem Verstappen der in Runde 18 in die Box kommt war das Gelingen des Undercuts für den Sieg weniger entscheidend, als wo sich Perez auf der Strecke befindet und wie alt dessen Reifen sind, wenn für das Führungs-Trio ein 2ter Stop in Erwägung käme.
Und darauf will ich mit meinem "Knieschuss" hinaus: Es kommt weniger darauf an, wann Hamilton in die Box kam ... viel entscheidender für Mercedes war Bottas.
Ein paar Szenarien:
Szenario 1 (letztlich geschehen):
Bottas kommt (hinreichend) früh rein.
RedBull reagiert
Bottas soll im zweiten Stint pushen und nimmt so seine Reifen so hart ran, weil er in der dirty air sowohl von Hamilton als auch Verstappen (<2 Sekunden) liegt.
Der zweite Boxenstop wird für Verstappen eine Option, für Mercedes (wegen Perez) eher nicht.
Szenario 2 (Bottas pusht nicht):
Bottas kommt früh rein.
RedBull reagiert. Hamilton kommt eine Runde später rein und fällt hinter Verstappen zurück.
Bottas wird zum Reifen schonen geschickt und lässt sich zurück fallen. Bottas' Abstand zu Perez ist nach dessen Boxenstop recht klein, aber Bottas' Reifen sind nicht im schlechtesten Zustand. Er kann sich dadurch besser gegen Verstappen wehren, falls dieser noch einen Boxenstop einlegen sollte.
Bleibt Verstappen auf einer 1-Stop-Strategie, so bleibt abzuwarten, ob er oder Hamilton am Ende die Reifen besser gemanagt hat. Verstappen hat den Vorteil, dass er vor Hamilton liegt.
Szenario 3 (Bottas pusht nicht, Hamilton kommt früher):
Bottas kommt früh rein.
Hamilton kommt in die Box und bleibt vor Verstappen.
RedBull reagiert auf Bottas.
Bottas wird zum Reifen schonen geschickt und lässt sich zurück fallen. Bottas' Abstand zu Perez ist nach dessen Boxenstop recht klein, aber Bottas' Reifen sind nicht im schlechtesten Zustand. Er kann sich dadurch besser gegen Verstappen wehren, falls dieser noch einen Boxenstop einlegen sollte.
Bleibt Verstappen auf eine 1-Stop-Strategie, so bleibt abzuwarten, ob er oder Hamilton am Ende die Reifen besser gemanagt hat.
Szenario 4 (Bottas pusht nicht, Hamilton kommt früher, Verstappen nicht)
Bottas kommt früh rein.
Hamilton kommt in die Box und bleibt vor Verstappen.
RedBull reagiert nicht auf Bottas, sondern lässt Verstappen draußen.
Bottas wird zum Reifen schonen geschickt und lässt sich zurück fallen. Bottas soll dennoch ein Tempo gehen, dass er vor Verstappen landet.
Hamilton fährt vorne einen Abstand raus. Verstappen kommt nach seinem Boxenstop hinter Bottas raus. Bottas' Abstand zu Verstappen ist nach dessen Boxenstop recht klein, aber Bottas' Reifen sind nicht im schlechtesten Zustand. Selbst wenn Verstappen noch Bottas überholen sollte, wird er womöglich zu viel Zeit verlieren.
Hamilton hat - weil er wesentlich früher als Verstappen in die Box kam und weil dieser von Bottas aufgehalten wurde - einen ordentlichen Vorsprung.
Mercedes kann nun abwägen, ob Hamilton den Vorsprung verwalten kann, obgleich Verstappen frischere Reifen im zweiten Stint hat ... oder ob man Hamilton zu einem zweiten Stop reinholt (das hinge davon ab, wieviel Zeit er dann auf Verstappen gut machen müsste)
Szenario 5 (späterer Bottas-Boxenstop, RedBull-Undercut)
Bottas kommt (noch) nicht in die Box.
Red Bull holt Verstappen in Runde 18. Hamilton kommt eine Runde später rein und fällt hinter Verstappen zurück.
Bottas übernimmt die Führung. In Runde 25 wird er reingeholt, um einen Perez-Undercut zu verhindern.
Er kann sich dadurch besser gegen Verstappen wehren, falls dieser noch einen Boxenstop einlegen sollte.
Bleibt Verstappen auf einer 1-Stop-Strategie, so bleibt abzuwarten, ob er oder Hamilton am Ende die Reifen besser gemanagt hat. Verstappen hat den Vorteil, dass er vor Hamilton liegt.
Szenario 6 (späterer Bottas-Boxenstop, kein Undercut)
Bottas kommt (noch) nicht in die Box.
Hamilton kommt als erstes in die Box und bleibt vor Verstappen.
Red Bull holt Verstappen in Runde 18.
Bottas übernimmt die Führung. In Runde 25 wird er reingeholt, um einen Perez-Undercut zu verhindern.
Er kann sich dadurch besser gegen Verstappen wehren, falls dieser noch einen Boxenstop einlegen sollte.
Bleibt Verstappen auf einer 1-Stop-Strategie, so bleibt abzuwarten, ob er oder Hamilton am Ende die Reifen besser gemanagt hat. Hamilton hat den Vorteil, dass er vor Verstappen liegt.
Szenario 7 (späterer Bottas-Boxenstop, späterer Verstappen-Boxenstop)
Bottas kommt (noch) nicht in die Box.
Hamilton kommt als erstes in die Box.
Red Bull wartet mit dem Boxenstop für Verstappen ab.
Verstappen übernimmt zunächst die Führung.
In Runde 25 wird Bottas reingeholt, um einen Perez-Undercut zu verhindern.
In Runde 26 wird Verstappen reingeholt, um einen Bottas-Undercut zu verhindern.
Hamilton hat - weil er wesentlich früher als Verstappen in die Box kam - einen ordentlichen Vorsprung.
Mercedes kann nun abwägen, ob Hamilton den Vorsprung verwalten kann, obgleich Verstappen frischere Reifen im zweiten Stint hat ... oder ob man Hamilton zu einem zweiten Stop reinholt (das hinge davon ab, wieviel Zeit er dann auf Verstappen gut machen müsste)
Szenario 8 (späterer Bottas-Boxenstop, späterer Hamilton-Boxenstop)
Bottas kommt (noch) nicht in die Box.
Verstappen kommt als erstes in die Box.
Mercedes reagiert nicht auf den den RedBull-Undercut-Versuch.
Hamilton übernimmt zunächt die Führung
In Runde 25 wird Bottas reingeholt, um einen Perez-Undercut zu verhindern.
In Runde 26 wird Hamilton reingeholt, um einen Bottas-Undercut zu verhindern.
Red Bull kann nun abwägen, ob Verstappen den Vorsprung verwalten kann, obgleich Hamilton frischere Reifen im zweiten Stint hat ... oder ob man Verstappen zu einem zweiten Stop reinholt (das hinge davon ab, wieviel Zeit er dann auf Hamilton gut machen müsste). Bottas kann sich dadurch besser gegen Verstappen wehren, falls dieser noch einen Boxenstop einlegen sollte.
Fazit:
Mercedes weiß nicht, wann Red Bull den Verstappen zum ersten Boxenstop reinholt.
Holt man Hamilton zuerst in die Box, dann könnte Verstappen in der gleichen Runde kommen (6) oder noch etwas abwarten (7). Jedenfalls hätte Hamilton in dem Fall die "track position".
Wartet Mercedes mit Hamilton ab, so könnte Red Bull ein Undercut gelingen (was ja letztlich passiert ist).
Mercedes könnte den Hamilton-Boxenstop rauszögern (8), damit er im zweiten Stint schneller ist (Perez war durch den späteren Boxenstop am Ende näher an Hamilton als er es vor den ersten Boxenstops war).
Letztlich hat Mercedes agiert und mit dem Bottas-Boxenstop den Stein ins Rollen gebracht (Verhindern von Szenario 5). Reagiert Verstappen nicht auf den Bottas-Undercut (4), so muss er später Bottas überholen ... und dieser könnte es bis dahin etwas ruhiger angehen lassen. Reagiert RedBull auf den Bottas-Undercut-Versuch (2 und 3), so kommt es darauf an wann Hamilton reinkommt, aber auf jeden Fall könnte die Option einer 2-Stop-Strategie für Verstappen und RedBull unattraktiver werden, wenn Bottas sich nicht im Windschatten seiner Vorderleute die Reifen überstrapaziert.
Ergo, dadurch dass man Bottas früh reinholte erhöhte man sie Wahrscheinlichkeit, dass Verstappen bald darauf in die Box kommt (um nicht hinter Bottas zu landen). Man verhinderte so Szenario 5 (Verstappen kommt als erstes rein, lässt aber Szenario 1 zu (Verstappen kommt vor Hamilton rein).
Man weiß nicht mit Sicherheit, ob Red Bull Verstappen reinholt, wenn Hamilton eine Runde nach Bottas in die Box kommt. Kommt er nicht in die Box, dann landet er aber nunmal wahrscheinlich hinter Bottas.
Mit dem Bottas-Boxenstop verbesserte man die Gewissheit zu wissen, wann Verstappen zum ersten Boxenstop reinkommt (weil Red Bull nicht gern Verstappen nach dem 1ten Boxenstop hinter Bottas sehen möchte). Dennoch lässt man einen Undercut durch Verstappen zu (was auch hätte passieren können, wenn man Bottas nicht reingeholt hätte ... klar). Die Software mag ausspucken, dass dieser wahrscheinlich nicht gelingt ... aber nicht jeder Boxenstop geht glatt ... warum es unnötig knapp werden lassen?
Man forciert eine Reaktion auf den Bottas-Untercut und forciert damit indirekt den Verstappen-Undercut.
Danach weißt man Bottas an zu pushen (was nicht wirklich was gebracht hat) anstatt dass man ihn ruhiger angehen lässt, damit er besser gegen einen eventuellen zweiten Boxenstop von Verstappen absichern kann.
Mercedes hat agiert, Red Bull hat reagiert.
Bottas reinzuholen eröffnete RedBull die Möglichkeit die Strategien von Verstappen und Perez zu splitten, während man Verstappen vor Bottas hält.
Bottas pushen zu lassen verhinderte, dass er später "wehrhafte" Reifen hatte und vielleicht einer 2-Stop-Strategie etwas entgegen zu setzen hätte (wie Perez als eventuelles Hindernis für eine Mercedes-2-Stop-Strategie).
Von den Möglichkeiten die sich Mercedes boten (Bottas früher oder später reinholen, Hamilton früher oder später reinholen, Bottas pushen lassen oder Reifen schonen lassen) hat man meiner Ansicht im Gesamtpaket keine gute Wahl getroffen.
Klar, man hatte keine Garantie ob Verstappens Undercut gelingt oder nicht. Man hatte keine Garantie ob er einen 2ten Stop macht oder nicht. Man hatte keine Garantie, ob Verstappen zusammen mit Hamilton an die Box kommt oder nicht (fällt hinter Bottas).
Dennoch, es war sehr (!) wahrscheinlich, dass Verstappen nach dem Bottas-Boxenstop reingeholt wird.
Letztlich waren es die Mercedes-Schritte (Bottas reinholen, Bottas pushen lassen) welche vornehmlich dafür gesorgt haben, wann Verstappen zu dne Boxenstops kommt. Und Mercedes hat sich an die Red-Bull-Schritte (optionaler zweiter Boxenstop, eventuell gelingender Undercut) nur dürftig angepasst.
Daher denke ich, man hat sich "ins eigene Knie geschossen".