Ich bin alles andere als ein Löw-Fan. Mag ihn als Person nicht sonderlich, kann etliche seiner Entscheidungen nicht nachvollziehen und fühlte mich schon einige Male dann auch aufgrund des Spiels der Nationalmannschaft in meinem Wundern bestätigt.
Aber ihr greift schon sehr weit vor. Unterm Strich ist die Nationalelf derzeit noch Weltmeister, hat sich problemlos für das aktuelle Turnier qualifiziert und war zuletzt im Halbfinale der EM, hat den zugegebenermaßen eigentlich bedeutungslosen Confed-Cup gewonnen, und hat auch zuvor bei den Turnieren nunmal nominell gut abgeschnitten. Glaubt ihr wirklich, der DFB feuert seinen Trainer wegen ein paar schlechten Vorbereitungsspielen oder wegen wunderlicher Entscheidungen, bei denen man nicht 100%ig sicher sein kann, dass eine andere Aufstellung tatsächlich mehr Erfolg gebracht hätte?
Für das Feuern von Löw braucht es ein tatsächliches Abschneiden weit unter Erwartung. Das gab es bisher noch nicht, und ich möchte an der Stelle anmerken, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Deutschland bei Abruf seines Potenzials auch zwangsläufig Turniersieger werden muss. Auch in anderen Ländern gibt es hervorragende Talente, großartige Förderung derselben und fähige Trainer, die eine Mannschaft zur Meisterschaft führen können. Wenn das derzeit Schmoren im eigenen Saft ist, denke ich, dass viele Nationen gerne diese Situation hinnehmen würden.
Top Beitrag.
Ich würde sagen Deutschland hat in der Löw Zeit anhand der Ergebnisse sogar eher "overperformed" wenn man die Erfolge mit der verfügbaren individuellen Qualität vergleicht. Die Nationalmannschaft war in diesem Zeitraum extrem konstant und hat dazu auch vor 4 Jahren den großen Titel abgestaubt.
Insofern kann ich Kritik anhand der Resultate/Erfolge nun wirklich nicht ernst nehmen.
Ein anderer Punkt (typisch für Kritik an Nationaltrainern) ist das Phänomen, dass es ganz viele Kritiker gibt und diese Gruppe aber jeweils extrem unterschiedliche Forderungen und Vorwürfe hat. Man hat das auch schön vor diesem zweiten Spiel gegen Schweden gesehen als so ziemlich jeder Spieler in mehreren Beiträgen für die Startelf gefordert und gleichzeitig von anderen Usern auf die Bank gewünscht wurde.
Oft habe ich den Eindruck die Leute haben einfach eine bestimmte Agenda/vorgefertigte Meinung und nutzen dann die Niederlage um ihren Lieblingskicker in der Startelf zu fordern oder den verhassten Kicker auf die Bank zu wünschen. Dabei hatte das oftmals mit den eigentlichen Problemen und Schwächen im verlorenen Auftaktspiel nicht sehr viel zu tun.
ABER: Ich finde es gibt hier im Forum und medial auch die Tendenz in das Gegenextrem zu verfallen und einfach jede Entscheidung des Trainerteams künstlich zu verteidigen und jede Kritik mit dem Gegenargument "Wir sind aber Weltmeister" abzuschmettern.
Ich schreibe es ja oft und bei allen möglichen Themen: Ich finde man darf die Leistung nicht stur anhand von Resultaten bewerten. Für mich waren die taktischen Entscheidungen 2014 bis einschließlich Achtelfinale eine Vollkatastrophe. Nicht weil Löw hinten 4 Innenverteidiger eingesetzt hat (dafür gibt es Argumente) sondern "wie" er sie eingesetzt hat. Das hat auf dem Papier keinen Sinn ergeben und es hat auch offensichtlich auf dem Rasen überhaupt nicht funktioniert.
Aber er hat es korrigiert und mit einem pragmatischen und logischen Ansatz die folgenden drei Spiele gewonnen.
Ich würde mir bei der Diskussion einfach mehr Gelassenheit und Sachlichkeit wünschen (gilt eigentlich für jedes Thema).
Meine persönliche Einschätzung zu Löw im Bezug auf dieses Turnier:
Nominierungen:
An der ganzen Torwartdebatte habe ich mich überhaupt nicht beteiligt weil doch einfach niemand die Leistungsfähigkeit und Fitness Neuers einschätzen konnte. Ich habe mich dann gewundert, dass sich das Trainerteam so früh auf Neuer als Nummer 1 festlegt aber ich denke es war auch der Versuch die Torartdebatte zu beenden und Neuer damit das Vertrauen auszusprechen. Und selbst wenn Neuer jetzt noch patzt... Er hat in den ersten Spielen einen guten Eindruck hinterlassen und damit diese Trainerentscheidung auch gerechtfertigt.
Bei den Feldspielern... Ich verstehe nicht warum Ginter dabei ist. Für mich gibt es kein Szenario bei dem er gebraucht wird. Er ist zwar in der Theorie vielseitig weil er schon auf der 6, als IV und als RV eingesetzt wurde. Aber gibt es auch eine Rolle oder eine Situation bei der man ihn wirklich einsetzen würde? Ich denke nicht.
Und dann sind wir bei Sane und Wagner. Im Gegensatz zur Debatte bei Neuer können auch wir Fans die Leistungsfähigkeit bis zu einem gewissen Punkt bewerten.
Wagner: Er hat mit seinem Wechsel nach München eigentlich alles richtig gemacht im Hinblick auf seine Chancen beim DFB. Er hat dort gezeigt, dass er sich ohne Drama mit einer Rolle als Backup zufrieden geben kann. Und auf dem Rasen war er stark: Als Einwechselspieler immer sofort mit Impact. Er hat Tore gemacht und war mannschaftsdienlich. Neben Giroud sehe ich keinen Spieler bei diesem Turnier den ich lieber als Brechstangenoption auf der Bank hätte. Sein Skillset entspricht genau den Anforderungen. In der Rolle ist er auch deutlich stärker als Gomez. Der hat bei Stuttgarts Kontersystem zwar gut funktioniert aber wenn es für die Stürmer Räume gibt hat Deutschland bessere Optionen.
Weil es sportlich keine Argumente gibt wurde dann über das Mannschaftsgefüge diskutiert. Aber er war ja beim Confed Cup und bei den Quali Spielen mehrfach dabei. Wenn Wagner wirklich so anstrengend wäre, hätte man ihn da schon irgendwann aussortieren können. Die halbe Mannschaft besteht aus einem Bayern Kern die ihn aus dem Vereins Umfeld kennt. Also es muss schon extreme Probleme gegeben haben wenn man sich als Trainerteam nicht zutraut sowas in den Griff zu kriegen. Für mich unverständlich...
Und dann wären wir bei Sane... Hat im Gegensatz zu Wagner eine große Diskrepanz zwischen den Leistungen im Verein und im Nationaltrikot. Jeder hat gesehen, dass die letzten Testspiele schwach waren. (Das galt allerdings auch für viele andere Kicker) Ich hätte ihn trotzdem mitgenommen egal wie furchtbar die Eindrücke im Training sind. Er hat einfach Fähigkeiten die es sonst im deutschen Team nicht gibt. Werner hat gegen müde Schweden in der zweiten Hälfte gezeigt wie einfach Fußball manchmal sein kann wenn man im Eins gegen Eins auf dem Flügel an seinem Gegenspieler vorbeirennen kann. Und Sane ist da auf einem Level wie es bei diesem Turnier vielleicht nur ein halbes Dutzend anderer Spieler gibt.
Sane war in der abgelaufenen Saison mit Abstand der beste deutsche Offensivspieler und dabei auch defensiv ordentlich und ballsicher. Er hat es beim DFB nicht konstant auf den Platz gebracht aber selbst wenn Löw ihm dann nicht für die Startelf vertraut... Ich hätte niemals auf Sane als Einwechseloption verzichtet. Ich hätte alles versucht den Jungen im Trainingslager hinzukriegen weil man sich eigentlich keinen besseren Spielertypen für die linke Seite wünschen kann...
Deutschland schafft eigentlich immer das Übergewicht auf der rechten Seite weil Kimmich dort aufrückt und Müller in dem Raum herumwandert. Dazu ein Sane an der linken Außenlinie für eine schnelle Verlagerung... Das ist auf dem Papier ein Traum. Dahinter könnte man dann sogar Süle oder Rüdiger spielen lassen weil Sane auf dem Flügel auch ohne Kombinationspartner für Gefahr sorgt.
Ich kann es nicht nachvollziehen selbst wenn die Eindrücke im Training auch vermuten lassen, dass er nicht die Form von City bringen kann. Wenn ich mir ansehe was Draxler bei PSG und beim DFB spielt... Entweder furchtbar oder unsichtbar. Aber der hat anscheinend ein hohes Standing.
Coaching:
Nach den bisherigen beiden Spielen fand ich die Auswechslungen und die taktischen Maßnahmen nachvollziehbar. Ich finde er hat im ersten Spiel zu lange passiv zugeschaut wie die Mexikaner immer wieder die gleichen Schwächen ausnutzen. Da kam die Reaktion erst zur Halbzeit mit den Auswechslungen statt einfach schon vorher Platte (oder Khedira) etwas defensiver zu positionieren. Der war offensiv sowieso keine Hilfe. Aber Löw entschied sich dann mit dem Wechsel und dem Zurückziehen von Özil für mehr Mut und Ballsicherheit. Guter Move und es hat funktioniert obwohl die meisten Trainer auf dem Sofa wohl eher einen Defensivspieler gefordert haben... Am Ende gab es aber eine druckvolle Schlussoffensive und man hätte sich einen Punkt verdienen können.
Die Änderungen gegen Schweden waren logisch. Das Konzept war erkennbar... Die Probleme resultierten nicht aus Lücken in der Formation (das war gegen Mexiko ein Problem) sondern aus furchtbaren individuellen Entscheidungen die man nicht dem Trainer zuschieben kann. Rüdiger und Kroos waren teilweise schon sehr abenteuerlich im Spielaufbau. Man muss aber auch sagen, dass Schweden trotz guter Quali kein Topteam ist. Die wurden ja teilweise schon ein wenig stark geredet im Bezug auf die defensive Qualität. Das ist ein solides und hart arbeitendes Kollektiv. Aber da warten im Turnier noch andere Prüfsteine. An Torchancen hat es ja auch nicht gemangelt...
Gegen Südkorea wird es ähnlich aussehen wie gegen Schweden. Die sind schon ziemlich schwach... Ich bin gespannt ob dann in der KO Runde weiterhin so dominant agiert werden soll. Denn das wundert mich dann doch. Neben den Spaniern agiert eigentlich nur Deutschland so... Franzosen, Brasilianer, Belgier... Die haben nicht weniger individuelle Qualität auf dem Platz und ziehen sich trotzdem viel öfter zurück und überlassen dem Gegner den Ball.
Auch Deutschland war bei den Turnieren unter Löw immer eher pragmatisch und hatte die besten Spiele wenn man selbst schnell umschalten konnte. Da gab es immer große Unterschiede im Vergleich zu Quali und Testspielen. Vielleicht ist das jetzt auch der Situation in der Gruppe geschuldet aber ich bin extrem geespannt ob wir das in der KO Runde auch probieren... Ich halte es für einen Fehler.
Man sieht, wie sich die Top Teams gegen tiefstehende und gut organisierte Teams abmühen. Wenn Deutschland gegen Brasilien oder Belgien so dominant auftreten will... Gute Nacht. Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Man kann sicher Druck aufbauen aber man wird auf der anderen Seite auch damit leben müssen, dass Hazard, Neymar und Co immer wieder mit Tempo und viel Raum auf die Abwehr zulaufen...
Ich glaube nicht, dass Deutschland die Qualität hat um mit dominantem Fußball das Turnier zu gewinnen. Mit diesem Ansatz wären sie für mich in der KO Runde gegen die anderen guten Teams nur Außenseiter. Das wäre für mich ein riesiger Fehler und falsche Selbsteinschätzung.
Aber vielleicht sieht man in der Ko Runde auch einen etwas zurückhaltenderen Stil. Ich bin gespannt...