Abrissbirne aus Sankt Petersburg
Der Russe Nikolai Valuev ist mit 2,17 Meter der grösste Boxer aller Zeiten. Obwohl er in der Weltrangliste Platz 10 belegt, gilt er noch immer als Jahrmarktattraktion. Das kränkt ihn. Er will es allen zeigen und Weltmeister werden. Für dieses Ziel trainiert er sieben Stunden am Tag.
Seinetwegen wurde das Doppelzimmer im Hotel «Maritim» umgestellt. :ricardo: :laugh2: Das eine Bett steht als Verlängerung quer am anderen. :laugh2: :laugh2: :laugh2: Auch Türrahmen und Lifte im Haus hätten erhöht werden müssen. Doch der Aufwand wäre zu gross gewesen für die eine Nacht, die Nikolai Valuev im Osten Berlins verbringt. So muss der Russe den Kopf im Lift schräg halten, vor den Türen den Bückling und um die herabhängenden Deckenlampen einen Bogen machen. Ein Spiessrutenlauf. Valuev winkt mit der rechten Pranke ab, eine Bewegung wie in Zeitlupe. «Bin ich gewohnt», grummelt er im tiefsten Bass.
Sein Atem ist schwer und laut. Doch der Mann aus Sankt Petersburg ist erst 31. Nicht «The Greatest» wie sein Vorbild Muhammad Ali, aber der grösste Boxer der Welt. Er misst 2 Meter 17 und wiegt 140 Kilogramm. Gäste und Angestellte in der Hotellobby bleiben stehen, schauen zu ihm auf, schütteln verstört den Kopf und lassen ein mitleidiges Lächeln folgen. Der russische Riese ist eine Attraktion im und neben dem Ring. Auch darum hat ihn der deutsche Boxstall Sauerland Anfang Jahr unter Vertrag genommen. «Überall, wo Niko auftaucht, geht ein Raunen durch die Zuschauer», freut sich
Wilfried Sauerland, der Don King Deutschlands, über die Aufmerksamkeit, die seinem Boxer zufliegt. Am 9. Oktober tritt der Russe an der Profibox- Gala in Erfurt gegen den Italiener Paolo Vidoz an (live in der ARD).
Valuev, so hofft der umtriebige Manager, kann dem Boxsport in Deutschland neuen Punch verleihen – jetzt, nachdem Sven Ottke als Weltmeister zurückgetreten ist und sich die Brüder Wladimir und Vitali Klitschko nach den USA orientieren.
Die Szenerie bestätigt das Klischee: Nikolai Valuev wird umwuselt von geschäftigen Herren. Manuel, der Trainer aus Armenien mit dem schneidigen Lächeln. Sergei, der Manager im Nadelstreifenanzug aus Russland, dessen Mercedes vor dem Hoteleingang parkiert ist. Hagen, der Sportdirektor der Sauerland GmbH, der sich um Verträge und Betreuung der Boxer kümmert, täglich 80 Anrufe aufs Handy bekommt und früher persönlicher Referent von Norbert Blüm war, dem damaligen deutschen Arbeitsminister. Alle drei Schattenmänner sind ehemalige Boxer, die sich wichtig ins Gespräch einmischen. «Herr Valuev, sind Sie stärker als die Klitschkos?» Nikolai: «Ja.» Sergei: «Die Klitschkos sind schon stark, aber Niko würde sie schlagen, er hat noch nie verloren. » Manuel: «Kein Gegner der Welt ist zu stark für ihn. Nikolai hat in den letzten Monaten technisch und taktisch enorme Fortschritte gemacht.» Hagen: «Es gab ja schon Gespräche. Wir wollen zwar keinen Kampf in den USA, aber ein Duell Wladimir Klitschko gegen Nikolai Valuev in Deutschland wäre schon sehr interessant.»
Valuev scheint froh, dass er nicht allein antworten muss. Er ist kein Mann der Worte, sagt auf Russisch via Übersetzerin «Ja», «Nein», «Ich weiss nicht», selten mehr. Sein Gesicht ist gezeichnet von Furchen und Wellen. Keine malträtierten Knochen, an denen man Boxer auf den ersten Blick erkennt. Welcher Gegner schafft es schon, seine Faust im Gesicht des Riesen zu platzieren? Valuevs Blick wirkt durchdringend traurig. Sein Äusseres ist eine Mischung zwischen Mike Tyson und Hulk, der Fantasiefigur, die sich in ein riesiges grünes Kraftpaket verwandelt, jedesmal wenn sie sich ärgert.
«Er ist ein ganz lieber Kerl», sagt Sauerland. Darum hat er seinem Schützling einen neuen Übernamen verpasst. Aus dem abschreckenden «Beast from the East» wurde der liebenswürdige «weiche Riese». Was seine Kontrahenten allerdings nicht mutiger macht. Valuev überrumpelt sie jeweils schon beim Einmarsch zum Kampf. Wenn er locker das bis 1 Meter 35 hohe oberste Seil am Boxring überschreitet, während sich die Gegner zwischen den Seilen durchzwängen müssen.
Er schaut dem Gegenüber von oben herab tief in die Augen. «Viele Boxer, die ihn zum ersten Mal sehen, sind durch seine Körpergrösse verunsichert», glaubt der Deutsche Andreas Sidon, der 1999 gegen Valuev boxte. Damals beendete der Ringrichter den ungleichen Kampf in der dritten Runde. Das löste Tumulte aus, Zuschauer warfen Sektflaschen und Bierbecher in den Ring, weil sie sich um ihr Eintrittsgeld betrogen fühlten. Also boxten die beiden einfach weiter, teilweise ohne Ringrichter. Der Kampf wurde schliesslich nicht gewertet. «Grosser Zirkus», erinnert sich Valuev brummelnd. Gerne würde Sidon noch einmal gegen den Russen boxen, er wisse jetzt, wie man ihn schlagen könne. Die ersten vier Runden überstehen, die eigene Schnelligkeit ausspielen, «und dann die Nerven und den Mut haben, auch mal aufs Kinn zu zielen».
Körpergrösse und Aussehen sind das Kapital des Russen – aber auch seine Hypothek. Kämpfe wie gegen Sidon oder gegen den australischen Meister Bob Mirovic im August 2003 im Bier- und Boxzelt auf dem Nürburgring zementieren sein Image als Jahrmarktattraktion. Valuev- Kämpfe sind ein Ereignis, weil die Zuschauer sich regelmässig auf die Seite des Kleineren schlagen und Goliath Valuev auspfeifen. Da er im Ring auf Grund der Grösse und der wenig ausgereiften Technik zudem langsam und tapsig wirkt, lässt die Kritik kaum ein gutes Haar am weichen Riesen. Er sei untalentiert, hässlich, nur zur Belustigung der Zuschauer gut, noch nie gegen starke Gegner angetreten, die Statistik sei darum Makulatur: 37 gewertete Kämpfe, 37 Siege, davon 29 durch vorzeitigen K. o., er solle doch zum Wrestling wechseln.
Valuev müssen solche Beurteilungen schmerzen, aber er lässt sich nichts anmerken. Warum ist er so gross? «Ja ne znaju», er wisse es nicht. Wachstumshormone, Krankheit? «Nein, nein», antwortet Manuel, der Trainer. Schon der Grossvater, der von den Tataren abstamme, sei über zwei Meter gross gewesen. Als Zwölfjähriger wurde Nikolai fürs Basketball entdeckt, zwei Jahre später wollte er als Diskuswerfer Weltmeister werden. Erst mit zwanzig wechselte er zum Boxsport. Ein Jahr später war er bereits russischer Meister. Heute zählt er zum Freundeskreis von Präsident Putin.
Valuevs Ehrgeiz ist ungestillt, sein Ziel: Weltmeister werden. Das Angebot aus Deutschland kam zur rechten Zeit. Der 64-jährige Sauerland, seit 1967 im Boxgeschäft, hat die Beziehungen, die es in diesem Sport braucht. Er und sein Team vermitteln dem Russen bessere Gagen, bessere Gegner, bessere Sparringspartner, bessere Trainingsbedingungen. «Niko ist dankbar und weiss genau, was er daraus machen will», sagt Hagen, der Sportdirektor. Valuev trainiert inzwischen dreimal täglich, insgesamt sieben Stunden. Seine Frau und seinen zweieinhalbjährigen Sohn lässt er viele Wochen im Jahr in Sankt Petersburg zurück, um sich in Deutschland durchzuboxen. «Prioritäten setzen», sagt er dazu. Doch um sich in der WBA-Weltrangliste weiter nach vorne zu kämpfen, vielleicht bald für einen WMKampf in Frage zu kommen, muss er vor ihm klassierte Boxer schlagen. «Diese zu motivieren, ist ziemlich schwierig», weiss Sauerland. «Wir verschicken Videos mit Ausschnitten aus Nikos Kämpfen. Doch das schreckt offenbar viele ab.» Er habe schon einen Boxer erlebt, der sich kurz vor dem zugesicherten Kampf aus dem Staub machte, gerade als Valuev auf die Waage stieg. «Ein Blick auf die Skala genügte. Der Gegner flüchtete zum Lift und tauchte nie mehr auf.»
Valuev erhebt sich bedächtig. «Er muss ins Bett», erklärt der Trainer. Am Morgen würden sie früh aufbrechen, Richtung polnische Grenze zum Trainingslager, ergänzt Sergei, der Manager, der Valuev im Mercedes chauffieren wird. Der weiche Riese lächelt zum ersten Mal an diesem Abend. Er bückt sich tief, deutet mit der Rechten einen Haken an, wirkt plötzlich schnell und bedrohlich, richtet sich aber gleich wieder entspannt und in seiner ganzen Grösse auf: «Nur Spass», grunzt er von oben herab. Wie beruhigend.
Quelle: http://www.facts.ch/dyn/magazin/sport/420962.html