Tool - Fear Inoculum
Im August 2007 kroch ein deutlich jüngerer und fitterer Max Power gut gelaunt aus seinem Festivalzelt, in freudiger Erwartung, am Abend endlich Tool live zu sehen. Schließlich war ich in erster Linie wegen denen überhaupt hingefahren ... doch schon am Morgen wurde ich auf dem Weg zum Kaffee-Stand in meinem Tool-Shirt ausgelacht. Alsbald sah ich auf einem Infoplakat auch, warum: die Band hatte kurzfristig abgesagt, warum auch immer. Hätte ich an dem Moment erahnen können, dass das nächste Album erst 12 Jahre später erscheinen würde, wäre mein Tag noch mehr im Arsch gewesen, als er es auch so schon war.
Und jetzt ist es plötzlich da. Und es ist großartig. Wie
@Savi im anderen Thread schon schrieb: es ist absolut nicht selbstverständlich, dass eine Band nach so einer langen Pause ein derart gutes Album veröffentlicht. Doch schon der vorab veröffentlichte Titelsong hat mich beruhigt und davon überzeugt, dass das hier kein "Chinese Democracy" wird. Die große Stärke von "Fear Inoculum" ist es, Tool-Fans mit bekannten Strukturen abzuholen, ohne sich zu sehr selbst zu zitieren. Es klingt einerseits vertraut, andererseits aber auch frisch - und so fällt es nicht schwer, sich zurechtzufinden und, ja, wohlzufühlen. Licht aus, Kopfhörer auf, eintauchen.
Das Album besteht letztlich aus 7 ziemlich langen Stücken, die in der digitalen Version um drei Interludes erweitert wurden. Diese sehe ich persönlich als kleinen Troll-Move der Band an, schließlich fließen die 7 Stücke auch so perfekt ineinander und die Tatsache, dass die Zahl 7 auf dem Album eine zentrale Rolle einnimmt, zeigt mir, dass sich die eigentlich streaming-skeptische Band da einen kleinen Scherz erlaubt hat. Wie auch immer, man erkennt an der Länge der Songs schon, dass diese großteils in ausufernden Jam-Sessions entstanden sind und dass man hier bewusst darauf verzichtet hat, kürzere und prägnantere Stücke a la "Aenima", "Schism" und so weiter zu kreieren. Stattdessen schließt man Songs wie "Pneuma" und "Invincible" eben nicht nach 6 oder 7 Minuten ab, sondern macht sie in der Folge zur Spielwiese für Danny Carey und Adam Jones. Der Großteil von Maynard James Keenans Arbeitstag ist an dieser Stelle oft schon beendet, wenn die beiden ihr Drum- und Riff-Patterns rausbrettern und unterstützt von Synthesizern und Percussions in völlig eigene Welten abdriften. Dabei trägt eben genau Keenan zuvor dazu bei, dass die Songs langsam und behutsam aufgebaut werden und für unzählige Gänsehaut-Hooks sorgen. Das gilt vor allem für "Pneuma" und "Invincible", in der Folge aber auch für die beiden Grower "Descending" und "Culling Voices".
Jäh unterbrochen wird diese spannende Reise dann vom Instrumental "Chocolate Chip Trip", bei dem Danny Carey sein 80-minütiges Drumsolo unterbricht, um unterstützt von spacigen Effekten noch mal ein eigenes Drumsolo zu spielen. Nicht mein Fall, aber wenigstens auch klar der kürzeste Song auf dem Album und der einzige, bei dem ich skippe. Zum Schluss dann mit "7empest" das längste Stück des Albums - und nicht nur ein würdiger Schlussstrich unter das Album, sondern, wenn es das jetzt war, auch unter die Karriere. Denn während der Großteil des Albums an die beiden Vorgänger "Lateralus" und "10,000 Days" erinnert, schlägt "7empest" gekonnt die Brücke von "Undertow" bis in die Gegenwart. Aufregender und kurzweiliger kann ein 15 Minuten langer Song nicht ausfallen.
"Fear Inoculum" musste nach all den Jahren gegen extrem hohe Erwartungen ankämpfen, aber für mich sind sie alle erfüllt worden. Die Band erfindet das Rad und sich selbst nicht neu, wird dabei aber in 80 Minuten kein bisschen langweilig und spielt gekonnt alle Trümpfe aus, die Tool in den letzten 25 Jahren zu einem der größten Namen im Rock-/Metalbereich gemacht haben. Unterm Strich ist es tragisch, dass uns eine Band mit vier derart außergewöhnlich talentierten Musikern in all dieser Zeit "nur" 5 Alben geschenkt hat. Dafür sind es großartige Alben, die die letzten drei Jahrzehnte in diesem Genre entscheidend mitgeprägt haben. "Fear Inoculum" ist dabei wahrscheinlich nicht das beste im Bandkatalog, aber trotzdem absolut fantastisch geworden.
10/10.
Anspieltipps: Pneuma,
Invincible,
Descending,
7empest