Das Problem ist halt die Erwartungshaltung. Fury hat ähnlich wie im Klitschko-Kampf, der sowohl boxerisch als auch von der Dramatik her kein großer sondern ein schwacher Kampf von beiden Seiten war, einfach wenig gemacht.
Im Ngannou-Kampf waren beiden Seiten sehr zurückhaltend mit Aktivitäten
Ngannou hat mehr Power Punches geschlagen, Fury aber in der Mehrzahl der Runden mehr Jabs geschlagen und auch gelandet, dass kann ihm optisch den Kampf gebracht haben. Ein wirkliches Fehlurteil kann ich daher nicht erkennen.
Allerdings ist es eben der Betrachtungswinkel aus der jeweiligen Erwartungshaltung, der den Unterschied macht. Bei Klitschko Fury war Fury der Außenseiter, der gegen einen langjährigen WM boxte, dessen Ablösung aufgrund seines unansehnliches Dirty-Tactics-Vermeidungsstils von vielen Betrachtern herbeigesehnt wurde. Deshalb wurde Fury die Stinkerei im Kampf und das schwache Boxniveau verziehen. Beim Ngannou-Kampf sieht die Lage komplett anders aus. Ngannou war der große Underdog, bei dem die Trainingsvideos schlimmes fürchten ließen. Stattdessen bekam man einen fokussierten Ngannou zu sehen, der gegen den pomadig auftretenden Fury alleine schon deshalb den moralischen Sieg automatisch geschenkt bekam. Boxerisch war das von Ngannou in den meisten Bereichen keineswegs Weltklasse, aber viel mehr, als man erwarten konnte. Weltklasse war Ngannou in seiner Anti-Dirty-Tactics-Strategie, auch begünstigt durch seine MMA-Zeit. Zudem ist er augenscheinlich mental sehr stabil und sein Konterboxen war eben auch weitaus besser, als man es vermutet hätte.
Fury geht erkennbar den Wladimir-Klitschko-Weg der zunehmenden Selbstperversion. Wenn man einmal Boxkämpfe aus einer Kombination aus Marktmacht und nichtboxerischen Mitteln gewinnt, dann scheint man der Versuchung nicht widerstehen zu können, den echten boxerischen Teil immer kleiner werden zu lassen. Was Fury dabei bisher im Vergleich zu Klitschko rettet ist sein selbstdarstellerisches Talent und die wesentlich erfolgreichere Vermarktung. Fury gilt als Kult, ohne das die objektive Wirklichkeit das Bild erreicht.
Fury hat auch erkennbar ein Gespür für plakative Kämpfe. Der Kampf gegen Cunningham, ebenfalls eine Art Coming-from-behind-Nummer inkl. Bodenbesuch passt auch zur Wilder-Nummer, ebenfalls mit Bodenbesuch. Das Bild des Stehaufmännchens wirkt einfach sympathisch, wenn man die Begleitumstände weglässt. Gegen Cunningham sah Fury boxerisch nicht gut aus, den Sieg hat er geholt, weil Cunningham den Niederschlag völlig falscht interpretiert und weil er Cunningham anschließend mit Dirty Tactics abschussreif gemacht hat.
Wilder war handverlesen, was auf den ersten Blick absurd wirkt, es aber gar nicht ist. Wilder, der vermeidliche Mordspuncher, der seine Siege überwiegend gegen schwache und Past-Prime-Elite geholt hat, ist tatsächlich ein herausragender Puncher, aber eben boxerisch und konditionell schwach. Das hat Fury beim Studium der Wilder-Kämpfe natürlich auch gesehen. Der erste Kampf hat dann die wertvollen Erfahrungen gebracht, die Fury brauchte um Wilder im zweiten Kampf sowohl boxerisch als auch dirty tactics-mäßig auseinanderzuschrauben. Ausgerechnet der dritte Kampf hat dann Furys boxerische Limitierung noch einmal verdeutlicht, indem Wilder taktisch etwas umgestellt hat, was Fury vor Probleme gestellt hat, was Fury wieder nur mit Dirty Tactics lösen konnte. Wie bei Klitschko sind die Dirty Tactics damit schon zum integralen Bestandteil der Kampfstrategie geworden, was man wieder gegen Ngannou gesehen hat und was man auch gegen Usyk erwarten darf. Boxerische Glanzleistungen sind von Fury nicht mehr zu erwarten.
Sehr gute Analyse.