Toni Innauer übt scharfe Kritik an Jury in offenem Brief an FIS-Präsident
Nachdem Toni Innauer, seines Zeichens ehemaliger Weltklasse-Skispringer, mittlerweile ÖSV-Sportdirektor, bereits nach dem Springen am Sonntag im norwegischen Lillehammer die Entscheidungen der Jury, den Wettbewerb nicht abzubrechen oder den Anlauf zu verkürzen, kritisierte, schrieb er nun einen offenen Brief an FIS-Präsident Gian Franco Kasper.
Er erklärt, dass der Sturz von Gregor Schlierenzauer nach unglaublichen 150,5 Metern eine Folge der Fehlentscheidungen der Jury darstellt und kritisiert weiter, dass „die Schwerpunktsetzung und Gewichtung der Juryentscheidungsgrundlagen zunehmend die Gefährdung der Gesundheit einzelner Sportler in Kauf nehmen zu scheint“. Im Namen aller Sportler appelliert Innauer an die FIS, ähnliche Entscheidungen in Anbetracht der großen Verantwortung für die Gesundheit der Ahtleten, zu überdenken.
SKIJUMPING.de veröffentlicht für Sie den kompletten Brief:
Sehr geehrter Herr Präsident,
lieber Gian Franco,
beunruhigt durch eine Serie von Stürzen bzw. äußerst gefährlichen Situationen, die den österreichischen Gesamtweltcupsieger 08/09 Gregor Schlierenzauer betreffen, möchte ich mich an dich wenden. Mir liegt es fern, die Komplexität und den Druck in der Arbeit der Jurymitglieder und des Wettkampfmanagements zu unterschätzen aber ich möchte auf eine drohende Gefahr hinweisen.: Die Schwerpunktsetzung und Gewichtung der Juryentscheidungsgrundlagen scheint zunehmend die Gefährdung der Gesundheit einzelner Sportler in Kauf zu nehmen. Ich fühle mich um 35 und mehr Jahre zurück versetzt, als der Schweizer Überflieger Walter Steiner durch überlange Anlaufwahl mehrfach zu Sturz und um den Sieg gebracht wurde. Werner Herzog hat damals die dramatische Geschichte in einem großartigen aber anklagenden Dokumentarfilm dargestellt.
Der italienische Technische Delegierte Sandro Pertile hatte am Montag als einziger die Größe, sich einen Tag nach dem Wettkampf in Lillehammer für die Gefährdung von Gregor Schlierenzauer bei ihm und beim Trainerteam zu entschuldigen. Gregor Schlierenzauer ist wie bereits drei Mal (Kulm, Vikersund, Vancouver) in der vergangenen Weltcupsaison durch die Weigerung der Jury, vor ihm zu verkürzen, in akute Verletzungsgefahr gebracht worden. Es war am 6.12. nach dem neuen Schanzenrekord von Simon Ammann absehbar, dass es bei der nicht unrealistischen Konstellation: guter Sprung von Schlierenzauer und guter Wind im zulässigen Korridor, viel zu weit gehen würde. Die Fahrlässigkeit der Jury liegt im Umstand, auf schlechte Verhältnisse beim Sprung von S. und damit mit seiner Gesundheit zu spekulieren. Es ist dem Geschick des Sportlers und Glück zu verdanken, dass es nicht zu einer groben Verletzung kam, als er seinen Flug abbrechen musste und trotzdem erst bei 150,5 m landete und stürzte.
Danach wurde der Wettkampf wieder mit 3:0 Jurystimmen fortgesetzt und Schlierenzauer mit dieser Entscheidung zusätzlich zur fahrlässigen Gefährdung seiner Gesundheit auch noch um die faire Chance einer Sprungwiederholung und um den Sieg als bester Springer des Abends gebracht. TD und Jury haben sich zum wiederholten Mal gegenüber der Leistungsfähigkeit eines Sportlers eine generelle Fehleinschätzung geleistet, die, bei allem Respekt vor der Schwierigkeit der wahrzunehmenden Aufgaben, nicht in dieser Häufigkeit vorkommen darf. Das zu verhindern liegt meines Erachtens im Zuständigkeitsbereich des FIS-Racedirektors Walter Hofer.
Es will sich bei der Jury niemand mehr daran erinnern, dass die ÖSV-Verantwortlichen beim TD-Assistenten Jan Kowal gezielt und unmissverständlich Annullierung und Neustart des Durchgangs mit kürzerem Anlauf verlangt hatten. (Wenn das nicht im Protokoll steht, dann ist es unterschlagen worden.)
Von den meisten Beteiligten wird bei jeder Gelegenheit darauf hingewiesen, dass die Misere mit dem „neuen Reglement“ nicht passiert wäre. Hier werden Dinge vermischt, um von menschlichem Versagen im gültigen Reglement abzulenken und um sportpolitisches Kleingeld aus einer Situation zu schlagen, die durch Fehlentscheidungen im Wettkampfmanagement provoziert worden war.
In dieses Bild passt auch noch der technische Hinweis in der Ergebnisliste, der für diesen Abend durchschnittliche Windgeschwindigkeiten von 0,02-0.45m/sec ausweist und den beschönigenden Eindruck vermittelt, als hätte ein leichtes Lüftchen geweht. FIS-Racedirektor Walter Hofer geht aus der Schusslinie, er ist nicht mehr in der Jury, versucht aber medial seine schützende Hand über seine Getreuen zu halten. Experten sind davon weniger zu beeindrucken als das mäßig informierte TV-Publikum. Es ist zu hoffen, dass in der FIS-internen Aufarbeitung Klartext gesprochen wird. Vorauseilendes kommerzielles oder mediales Abhängigkeitsempfinden und der untaugliche und unfaire Versuch, die Verantwortung auf die Trainer und Sportler abzuwälzen, kennzeichnen die Nachbearbeitung des Vorfalls. „Ihr hättet ja freiwillig verkürzen können!“ Dem Sportler und den Trainern wird die Entscheidung zwischen einem Wettbewerbsnachteil (durch die Wahl geringerer Anlaufgeschwindigkeit) gegenüber seinen Konkurrenten (durch freiwilliges Verkürzen) und Sturz-und Verletzungsrisiko (bei Beibehaltung der offiziell festgelegten Anlauflänge) zugemutet. Es gehört zu den grundlegenden Aufgaben einer Jury, in einer Risikosportart wie Skispringen, den Sportlern möglichst sichere und chancengleiche Ausgangsbedingungen zu verschaffen und sich dabei an den Besten zu orientieren.
Glücklicherweise ist Schlierenzauers spektakuläre „Beweisführung“ der Fehleinschätzung und Ignoranz unserer Warnungen zum vierten Mal in einem kurzen Zeitraum glimpflich verlaufen. Die Ereignisse sind eng genug aufgereiht um für jeden Insider einen Lernprozess daraus abzuleiten.
Im Namen aller, nicht nur unserer Sportler, appelliere ich an das Bewusstsein für die gemeinsam zu tragende professionelle und humane Verantwortung für die Gesundheit der uns anvertrauten Sportler in Training und Wettkampf. Dazu gehören die Entwicklung der Spielregeln und vor allem die verantwortungsbewusste Anwendung der aktuell gültigen Regeln im Wettkampfmanagement.
In der Hoffnung auf dein Verständnis und deine Unterstützung verbleibe ich
mit vorzüglicher Hochachtung und
herzlichen Grüßen
Toni Innauer
ÖSV-Rennsportdirektor
Sprunglauf u. Nord. Kombination
Quelle:
www.skijumping.de