Es ist schade, dass der Stammtisch sich die Psychologie im Fußball so zu eigen gemacht hat, mit inhaltsleerem Geschwafel ("die wollten es mehr, deswegen haben sie gewonnen" o.ä.). Wie wichtig dieser Aspekt sein kann, da gibt es wenig bessere Beispiele als das Spiel gestern. Zur HZ hat mich ein Kumpel gefragt, ob ich glaube, dass das Spiel noch besser wird. Ich habe gesagt: Nein, aber die Kroaten haben individuelle Ausnahmekönner in der Mannschaft, die jederzeit durch eine Einzelaktion ein Tor machen können. Solange die Kroaten nur mit einem Tor hinten liegen ist alles drin. So enttäuschend sie auch bisher gespielt haben.
Es war bis zum Tor schon frustrierend, den Kroaten zuzuschauen. Durch die Mitte ging nichts, also haben sie es über Außen probiert. Entweder kamen die Flanken von links auf den langen Pfosten, wo sich Mandzukic erfolglos mit Stones und Maguire geprügelt hat. Keine Schande, bei den zwei Kanten. Wenn die Flanken von rechts kamen und Mandzukic auf den langen Pfosten ging, um gegen Walker ins Duell gehen zu können (die beste Chance der Kroaten, wenn es über den Flügel ging), waren die Hereingaben flach und auf den ersten Pfosten. :wall: Kein Zufall, dass das Tor von Perisic dann nach der ersten guten Flanke von rechts kam. Und auf einmal waren die Kroaten wie aufgedreht (da kommt dann die oben genannte Psychologie ins Spiel). Die ~ 25 Minuten nach dem Tor waren mMn die besten Halbfinalminuten bei dieser WM. Da war richtig Feuer drin. Vor allem Perisic hat alles aus sich herausgeholt, im Pressing attackiert, ist jeden Weg gegangen. Es ist mMn auch kein Zufall, dass Perisic gegen Russland nur 63 Minuten gespielt hat. Ich glaube das waren die Extra Körner, die er drin hatte.
Modric hingegen war komplett platt. Das ist kein gutes Zeichen für das Finale. Der Kerl ist vierfacher CL Sieger, trotzdem ist das am Sonntag wohl das größte Spiel seiner großartigen Karriere. Er wird definitiv alles reinwerfen, was geht, aber gegen das ZM der Franzosen... puh. Ich muss aber auch sagen: Dalic ist jetzt zurecht ein Nationalheld in Kroatien. Aber warum ausgerechnet Modric, der wichtigste und älteste Spieler der Kroaten, im unwichtigen dritten Spiel gegen Island 65 Minuten ranmusste ist für mich komplett unverständlich. Diese Körner bekommt Modric nicht mehr zurück und er könnte sie so dringend brauchen. Und es war, wie gesagt, einfach total unnötig, Modric da spielen zu lassen. Perisic und er waren die einzigen Stammspieler auf dem Feld. Perisic musste sogar durchspielen, aber er ist immerhin auch "erst" 29.
Mandzukic gönne ich sein Tor unheimlich. Toller Spieler. Der geht auch komplett auf dem Zahnfleisch. Aber er macht eben das Tor noch. Wobei ich da sagen muss, in den Posts nach dem Spiel habe ich viel zu selten den Namen John Stones gelesen. Das war schon ein abenteuerlicher Fehler, der ihm so niemals passieren darf. Ja, der hatte auch 108 Minuten in den Knochen, aber das als junger IV. Du kannst in so einer Situation nicht geistig abschalten. Mandzukic schüttelt ja auch kurz den Kopf und ist frustriert, aber er erkennt die Situation dann eben trotzdem noch schnell. Naja, wird Stones daraus lernen.
Der stille Held der Kroaten war aber mMn Brozovic. 88 % Passquote, 3 Key Passes, 3 Torschüsse, 3 Torschussvorlagen. Und laut dem Kommentator (konnte dazu leider auch nach kurzer Recherche keine Zahlen finden) nach ~ 105 Minuten mit über 15 km Laufleistung. Man sollte die Laufleistung nicht überbewerten, es kommt, wie es immer so schön heißt, ja auch darauf an, die wichtigen Sprints zu machen und die klugen Wege zu gehen. Aber 15 km ist schon brutal, Verlängerung hin oder her. Ich denke man kann in dem Fall sagen, dass er für Modric mitgelaufen ist. Seine Zweikampfquote war nicht gut (36 %), aber das ist auch der einzige Kritikpunkt.
Aus englischer Sicht ist es einfach unnötig, dass man so früh in den Verwaltungsmodus gegangen ist. Das waren schon starke erste 30 Minuten. Da hat man den Kroaten komplett den Schneid abgekauft. Aber außer der Riesenchance für Kane (in eben jener 30. Minute) konnte man die Phase nicht nutzen, um nachzulegen. Warum man es danach nicht weiter versucht hat verstehe wer will.
Southgate hat ein starkes Turnier gecoacht und mit England wird tendenziell zu rechnen sein in den nächsten Turnieren (und alleine das ist schon eine Leistung, wenn man sich die letzten Turniere anschaut). Aber warum Harry Kane nach dem Wechsel Rashford für Sterling so tief gespielt hat, als hängende Spitze, verstehe ich nicht. Das war konstant so, deswegen glaube ich auch, dass das eine taktische Anweisung war. Ich habe ja gar nichts dagegen, wenn sich ein 9er mal weiter hinten die Bälle holt, aber Kanes größte Stärke ist nunmal der Abschluss und seine Bewegungen im Strafraum. Dem hat man sich freiwillig und ohne Not komplett beraubt. Stattdessen hat Rashford die 9 gespielt und Kane lief rum wie Falschgeld, hat gleichzeitig aber vorne gefehlt. Letztlich war der Wechsel Rashford - Sterling Gift für die Engländer - und das lag nicht an Rashford, sondern an Southgate.