Am Wochenende habe ich "Intrige" (Im Original "J'accuse") von Roman Polanski gesehen. Dieser preisgekrönte Film war sehr umstritten, allerdings hauptsächlich wegen den bekannten privaten Problemen des Regisseurs, der auch einen kleinen Cameo-Auftritt hat.
Im Film geht es um die Dreyfus-Affäre, den grössten politischen Skandal in der dritten französischen Republik. Der Militärgeheimdienst findet heraus, dass es einen Verräter gibt, der Militär-Geheimnisse an das Deutsche Kaiserreich weitergibt. Ein Haupt-Verdächtiger wird schnell gefunden, Hauptmann Alfred Dreyfus. Dreyfus ragt unter den übrigen Verdächtigen deshalb heraus, da er aus dem von Deutschland 1871 annektierten Elsass stammt, vor allem aber, weil er Jude ist. Dreyfus wird öffentlich degradiert und auf die Teufelsinsel verbannt, wo er in Einzelhaft in einer Hütte inhaftiert und nachts ans Bett angekettet wird.
Der neue Chef des Militärgeheimdienstes, Major Picquart, aus dessen Perspektive der Film die Geschichte erzählt, entdeckt jedoch zufällig Indizien dafür, dass tatsächlich ein anderer Offizier, Major Esterhazy, der wahre Täter ist. Weitere Ermittlungen führen zu eindeutigen Beweisen. Nun beginnt die eigentliche Affäre.
Als Picquart seine vorgesetzten Offiziere sowie den Kriegsminister darauf hinweist, dass Dreyfus unschuldig und Esterhazy der wahre Verräter ist, reagieren diese zunächst unwillig. Da Picquart nicht locker lassen will unterdrücken sie die Beweise schliesslich und veranlassen Picquarts Versetzung "in die Wüste" (im wahrsten Sinne des Wortes). Die Führung der Armee geht davon aus, dass ein Eingeständnis, einen Unschuldigen verurteilt zu haben, das Vertrauen der Öffentlichkeit in einem Ausmass beschädigen würde, das viel schwerwiegender ist, als einen Juden irgendwo am Ende der Welt verrotten zu lassen.
Picquart gibt aber nicht auf. Nach seiner Rückkehr aus Algerien stellt er fest, dass er vom Militär-Geheimdienst inzwischen selber überwacht wird, da man ihn für ein Sicherheitsrisiko hält. Da er als Offizier auf dem Dienstweg gescheitert ist, er selber kurz davor steht angeklagt zu werden, und er nicht an die Öffentlichkeit gehen kann, nimmt er über politisch liberale Kreise Kontakt zu Emile Zola auf, einem der grössten Schriftsteller seiner Zeit. Dieser schreibt in der Presse einen offenen Brief "J'accuse" ("Ich klage an") in dem er die Affäre offenlegt und die handelnden Akteure (Offiziere, Sachverständige, Politiker) beim Namen nennt und direkt angreift. Dieser Artikel schlägt wie eine Bombe ein und führt zu massiven innenpolitischen Verwerfungen und antisemitischen Ausschreitungen. Picquart, der nun als Nestbeschmutzer und Agent des internationalen Judentums gilt, wird unehrenhaft aus der Armee entlassen, Emile Zola zu einer Gefängnisstrafe wegen Verleumdung verurteilt.
Ferner wird gezeigt das Wiederaufnahmeverfahren gegen Dreyfus, in dem die französische Armee, die ihre Ehre bedroht sieht, sogar extra gefälschte Beweise für Dreyfus Schuld auffährt, Offiziere Falschaussagen tätigen und "Geheimbeweise" nennt, die der Öffentlichkeit leider nicht gezeigt werden können. Die Armee argumentiert, dass man ihr einfach vertrauen muss und dass die Republik verloren sei, wenn die Öffentlichkeit kein Vertrauen in die Führung der Armee habe. Dreyfus wird erneut schuldig gesprochen, der Präsident, der die Angelegenheit aber erledigt haben will, bietet ihm jedoch die Begnadung an, was einem Schuldeingeständnis gleichkommt. Von den Jahren der Haft an einem unwirtlichen Ort gezeichnet und da er bei seiner Familie sein will, nimmt Dreyfus an. Der Film endet hier, es folgt noch eine Szene, die Jahre später spielt, nachdem Dreyfus und Picquart rehabilitiert wurden.
Es ist kein sehr spektakulärer Film, sondern eine genaue Rekonstruktion der Abläufe und eine Geschichte über Whisteblowing im Angesicht der Staatsräson. Auf der einen Seite steht der unscheinbare Dreyfus, alles andere als ein strahlender Held oder einnehmende Persönlichkeit. Er ist der personifizierte Durchschnitt, der ohne eigenes Zutun zum Sündenbock in einem politischen Stück auserkoren wird. Er ist nicht besser oder schlechter als irgendwer anders. Jeder könnte Alfred Dreyfus sein. Auf der anderen Seite steht ein riesiger Staatsapparat, dessen Institutionen all ihre Macht einsetzen, um einen einzelnen machtlosen Menschen, der zum Wohle aller geopfert werden muss, fertigzumachen. Der Film hat mir sehr gut gefallen, insbesondere, dass neben Dreyfus auch Picquardt nicht unbedingt als Sympathieträger dargestellt wird. Picquardt gibt offen zu, dass er selber auch nicht viel von Juden hält, schon gar nicht als Offizier im Generalstab. Er kämpft nicht aus irgendeiner progressiven emanzipatorischen Weltsicht heraus für Dreyfus, sondern nur, weil es "das Richtige" ist und die Offiziere, die Dreyfus aus Bequemlichkeit verrotten lassen wollen, den nationalkonservativen Ehrenkodex verletzen, den sie alle - inklusive Dreyfus selber - miteinder teilen und damit erst Recht die Ehre der Armee besudeln.
Einiges wird nicht gezeigt. Der tatsächliche Verräter, Major Esterhazy, wurde ebenfalls angeklagt und um der Ehre der Armee willen sogar freigesprochen. Er hat sich jedoch kurz darauf in ein freiwilliges Exil nach England begeben. Das Gerichtsverfahren, das nach über 10 Jahren schliesslich doch noch zur Rehabilitierung von Dreyfus und Picquart (der schliesslich selber Kriegsminister wurde) führte, wird ebenfalls nicht gezeigt. Der Film hätte wahrscheinlich 5-6 Stunden dauern müssen, um die ganze Story zu erzählen. Vielleicht wäre es eher was für eine Mini-Serie gewesen.
Nebenbei, Theodor Herzel, der Begründer des modernen Zionismus, war als Journalist am Dreyfus-Prozess beteiligt. Der Prozess und die Reaktion der französischen Öffentlichkeit machten einen enormen Eindruck auf ihn. Er ging davon aus, dass, wenn ein patriotischer und völlig assimilierter Jude wie Alfred Dreyfus in einem demokratischen europäischen Staat keine Gerechtigkeit erfahren kann und zum Hassobjekt der Massen wird, es illusorisch sei zu glauben, dass Juden von den Mehrheitsgesellschaften jemals als gleichberechtigt anerkannt werden.
Viele Gegner von Roman Polanski regt gerade dieser Film trotz seiner unzweifelhaften Qualitäten so auf, da naheliegt, dass Polanski sich selber mit Dreyfus identifziert, quasi als unschuldig Verfolgter und Verbannter. Aber jeder muss selber wissen, inwieweit er die Kunst vom Künstler trennen will oder auch nicht.