Mit einem Studiointerview in der Hauptnachrichtensendung des französischen Senders TF1 hat der belgische Sänger Stromae am vergangenen Samstag nicht weniger als Kulturgeschichte geschrieben. Es beginnt wie eine Sequenz, die jeder erwachsene Fernsehzuschauer schon unzählige Male gesehen hat, ein artiges Frage-und-Antwort-Ritual im Studio mit einem Künstler, der lange weg war und nun sein neues Album vorstellen möchte. Die Moderatorin fragt nach den diversen, weltmusikalischen Instrumenten, die auf dem "Multitude" genannten Album zum Einsatz kommen (unter anderem eine chinesische Geige ), und Stromae - sein Künstlername ergibt sich aus der Inversion des Titels Maestro - zählt seine vielfältigen Einflüsse auf: Brasilien, Ruanda, die Musik der ganzen Welt fließt im Werk des jungen Belgiers ineinander. Er stimmt dann artig ein Lob der Diversität an, der Vielfalt, die seinem Album auch den Titel gegeben hat.
Dann nimmt das Gespräch eine andere Wendung. Es geht um die schweren Themen, denen sich der Künstler in seinen leichten Stücken widmet. Schließlich kommt eine Frage nach den bewegten Zeiten, die Stromae durchgemacht hat, denn sieben Jahre lang war er nicht mehr zu sehen und zu hören.
Nach seinen weltweiten Erfolgen, die er 2013 und 2014 mit Hits wie "Papaoutai" oder
"Alors On Danse" , mit spektakulären Konzerten und aufsehenerregenden Videoclips feiern konnte, zog er sich zurück. Warum? Die Moderatorin spricht das Thema in seiner behutsamsten französischen Form an: Sie verspürten, Stromae, "un certain mal-être"? Einen gewissen Zustand
des Haderns mit dem Sein?
Stromae beweist die unvergleichliche Fähigkeit der Kunst, Menschen im Inneren zu erreichen
Nun mochte man eine der üblichen Formeln von Burn-out und Genesung erwarten, vom Verlust und Wiederfinden der künstlerischen Inspiration und Identität. Was Menschen, zumal Künstler mit ihrer Begabung zur Ichbetrachtung so reden, manchmal auch nur so plappern. Das wären die allgemein akzeptierten Phrasen - aber das wäre nicht Stromae, der als künstlerische Hochbegabung nicht nur emotional wie nackt vor seinem Publikum steht, sondern der auch ein hochpräziser, wirklich sehr besonders fesselnder Künstler ist, dessen Lieder und perfekt choreografierten Konzerte und Filme durch die immense Genauigkeit berühren, mit der sie hergestellt werden: Dieser schmale, sensible Mann meint dies alles - ob er glockenhell singt, wie eine enthemmte Marionette tanzt oder eben weint -, immer alles ersichtlich todernst.
Wie in einem Musical formuliert Stromae
seine letzte Antwort in den Hauptnachrichten des französischen Fernsehens in einem Song. Und der hat es in sich: Das "Enfer" (Hölle) genannte Stück ist eine Erörterung des Themas Suizidfantasien. Stromae bekennt sich dazu, zur Scham, die damit einhergeht, er bekennt sich zu dunklen Gedanken wie Einsamkeit, Ausweglosigkeit und dem Wunsch, die Stimmen im Köpf mögen endlich Ruhe geben. Es gibt kaum ein erschütternderes Thema, und da sitzt er im Studio, blickt direkt in die Kamera und singt mit seiner wunderbaren Stimme in den Hauptnachrichten. Man fasst das Ganze zunächst gar nicht.
Mit seinem Song über Depressionen macht der Sänger Stromae in der Hauptnachrichtensendung Frankreichs Medien- und Popgeschichte.
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