tennisnet.com hat Österreichs international angesehensten Trainer Günter Bresnik um seine Analyse gebeten – und auch gefragt, was diese Entwicklung für seinen Top-Schützling Dominic Thiem bedeutet, der mit 17 Jahren auf Platz 2 der U18-Weltrangliste liegt.
Herr Bresnik, kennen Sie Grigor Dimitrov?
Den kennt man schon seit Jahren. Ein guter Spieler, aber fraglich ist, ob eine Kopie so gut werden kann wie ein Original.
Sie sprechen Dimitrovs Technik an?
Ja. Das ist Federer, nur halt nicht das Original.
Wie gut kann Dimitrov werden?
Er ist kein Überflieger, wie das seinerzeit ein Becker war, ein Borg, ein Chang, ein Sampras oder auch ein Nadal, bei dem jeder auf den ersten Blick sieht: Das wird ein ganz Großer. Und der auch schon in jungen Jahren mit den Großen mithalten kann.
Die Frage zielt darauf ab, was in den derzeitigen Teenagern insgesamt steckt, wie Sie das Potenzial sehen. Oder müssen wir uns auf Jahre mit den immer selben Namen einstellen?
Natürlich kann jemand, der als 17-Jähriger bei den Junioren Grand-Slam-Turniere gewinnt, und das hat Dimitrov, auch bei den Erwachsenen ganz vorne mitspielen. Top Ten ist bei Dimitrov sicher drinnen. Aber diese enorme Dominanz eines Federer oder Nadal, dieses ganz außergewöhnliche Potenzial sehe ich derzeit bei keinem der Teenager.
Wieso setzen sich die Jugendlichen derzeit so gar nicht bei den Herren durch?
Der wichtigste Grund ist das Ranglistensystem. Es schützt Spieler, die derzeit vorne stehen. Du musst sehr viele Turniere spielen, um nach oben zu kommen. Es braucht viel länger, bis du in die nächste Stufe kommst, von Futures auf Challenger, von Challengern auf die Grand-Prix-Ebene. Früher konnte man als Nummer 131 schon Grands Prix spielen, jetzt kommt Dimitrov mit diesem Ranking nicht einmal in alle 250er-Qualis rein – obwohl er zuletzt drei Challenger gewonnen hat. Das gleiche Beispiel eine Ebene darunter: Gerald Melzer gewinnt drei Futures und ist weit davon entfernt, bei Challengern in ein Hauptfeld zu kommen. Und noch ein Aspekt: Wann hat Dimitrov zuletzt gegen einen Top-100-Spieler gespielt?
Im Queen's Club Anfang Juni.
Da stand er mit einer Wild Card im Hauptfeld, oder?
Ja. Und er hätte sogar für die Quali eine gebraucht.
Worauf ich hinaus wollte: Durch die enorme Dominanz von Federer und Nadal entsteht zusätzlicher Druck auf das gesamte Herren-Tennis. Dieser Druck wird von Ebene zu Ebene weitergegeben und macht den Spielraum für Junge noch geringer.
Inwiefern Druck? Was hat es mit einem 18-jährigen Jung-Profi zu tun, wenn Federer und Nadal die Grand-Slam-Titel unter sich ausmachen?
Das ist eine Logik, die mit Grundkenntnissen der Physik zu begreifen ist: Wo ein Körper ist, kann kein zweiter sein. Alle drängen nach oben. Aber Federer und Nadal halten diesem Druck mit ganz, ganz wenigen Ausnahmen stand. Es gibt fünf bis zehn Spieler, die Federer und Nadal schlagen können, dahinter eine Gruppe von 30, 40 Spielern, die diese fünf bis zehn gefährden können – das Ganze ist ziemlich festgefahren, ziemlich statisch. Und das macht das ganze System auf allen Ebenen dichter, macht es weniger durchlässig für junge Spieler. Das ist bei weitem nicht der einzige Faktor, aber er verstärkt alle anderen.
Was heißt das konkret in der Praxis?
Früher hätten die besten 18-, 19-Jährigen dauernd die Gelegenheit gehabt, sich mit der Weltklasse zu messen. Jetzt haben sie ein paar Mal im Jahr die Chance. Und diese Erfahrungen fehlen ihnen natürlich auf lange Sicht in ihrer Karriere. Wenn Dimitrov drei Challenger hintereinander gewinnt, ohne dabei gegen einen Top-100-Spieler anzutreten, hilft das seinem Punktekonto und seinem Ranking, aber nicht seiner spielerischen Entwicklung.
Damit schneidet sich die ATP doch auch ins eigene Fleisch. Wenn die frischen Gesichter fehlen, schadet das ja langfristig dem gesamten Sport …
Das ist richtig. Es sind wahnsinnige Hürden entstanden, für den Laien unsichtbar: zwischen 130 und 100 die Hürde der Grands Prix, zwischen 60 und 40 die der Masters-Turniere. Und dahinter, auf ungefähr 250, die Challenger-Hürde. Alles dahinter steckt mehr oder weniger im Überlebensstrudel der Futures, wo du viel mehr Ausgaben hast als Einnahmen. Aber die ATP hat das schon erkannt, steuert zumindest ein bisschen dagegen, hat zuletzt Futures und Challenger ein wenig aufgewertet. Was aber wiederum dazu geführt hat, dass die Felder bei den größeren Challengern aussehen wie Grand-Prix-Felder. In Mons war Stefan Koubek als Nummer 140 einer der Letzten im Hauptfeld – bei einem Challenger.
Gibt es irgendwo ein verstecktes Talent, einen jungen Federer oder jungen Nadal, der im Ranglistensytem erstickt?
Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Die ganz Großen setzen sich durch, unabhängig vom System: del Potro war mit 18 Top 100, mit 20 Top Ten. Es geht darum, dass das gesamte System durchlässiger werden müsste. Es geht, wenn man es so ausdrücken will, um die Breite der Spitze.
Wie sehen Sie die Leistungsdichte im Herren-Tennis derzeit im Vergleich zu früher?
Die größte Änderung sehe ich in der Menge der Spieler, die weltweit täglich professionell trainieren. Es wird nie mehr als 100 Plätze in den Top 100 geben – und während es vor ein paar Jahren noch 1.000, vielleicht 2.000 Spieler waren, die dorthin gedrängt haben, sind es jetzt, ich schätze mal, 5.000. Und die können alle Tennis spielen, fahren alle auf Turniere und schlachten sich in den Future-Qualis ab. Es wird für die Jungen immer härter. Es ist von Anfang an ein Überlebenskampf.
Nun gibt es Top-Junioren wie den Wimbledon-Juniorensieger Marton Fucsovics, der in der Jugend-Weltrangliste auf Platz zwei steht und bei den Herren gerade einen einzigen ATP-Punkt hat. Ist das Junioren-Tennis so schwach? Oder das Herren-Tennis auch athletisch so anspruchsvoll geworden, dass auch supertalentierte Junioren da nicht mitkönnen?
Die Athletik spielt eine sehr große Rolle, ja, aber eine fast noch größere spielt die Erfahrung. Selbst den Jugendlichen, die körperlich schon gut entwickelt sind wie ein Harrison, ein Tomic, ein Krajinovic, denen fehlt die Erfahrung auf der Tour, die man nur durch viele Matches gegen gute Profis holen kann, um sich dauerhaft durchzusetzen. Dasselbe Problem gibt es ja für die besten Jungen: Wenn der beste Teenager der Welt vielleicht ein, zwei Mal im Jahr mit einer Wild Card gegen einen Top-100-Spieler antreten darf, wie soll er da lernen, wie man sich gegen die Besten durchsetzt? Und die drei, die ich genannt habe, die haben ihre Junioren-Karrieren recht früh beendet und spielen schon relativ lang bei den Herren. Ohne nachgesehen zu haben, traue ich mich zu schätzen: Ein Fucsovics hat in seinem Leben noch nicht viele Matches gegen Leute aus den Top 200 der ATP bestritten.
Eines war's, wir haben nachgesehen, eine glatte Niederlage gegen Edouard Roger-Vasselin in der Quali von Metz. Sind die Jungen so schlecht?
Das darf man jetzt nicht verallgemeinern. Es gibt verschiedene Typen von Jugendlichen. Manche bleiben so lang wie möglich bei den Junioren, weil sie dort Erfolge feiern können, die ihnen Aufmerksamkeit und damit Unterstützungen bringen, durch Verbände oder durch Sponsoren. Das ist dann eine wirtschaftliche Überlegung, keine sportliche.
Diese beiden Überlegungen gehen aber wohl bei den meisten Hand in Hand.
Klar, der wirtschaftliche Aspekt spielt eine Hauptrolle bei fast allen Jugendlichen. Bei 99 Prozent der Spieler fehlt das Geld – während bei den allerbesten die Summen meines Erachtens sogar so hoch sind, dass sie die Entwicklung der Spieler hemmen. Wie hungrig ist ein 17-, 18-Jähriger, wenn er Verträge über mehrere hunderttausend Dollar pro Jahr hat?
Wie sieht das bei Ihrem Schützling Dominic Thiem aus? Er ist 17, steht auf Platz 12 der Junioren-Weltrangliste, acht der elf vor ihm gereihten Spieler sind Jahrgang 1992 und fallen daher mit Jahreswechsel raus. Macht rein rechnerisch ab 1. Jänner 2011 Platz vier der Welt. Wie leicht tut man sich da mit der Finanzierung der Karriere bei einem Jugendlichen in der Weltspitze?
Alles andere als leicht. Geld gibt es bei den Jugendlichen für die Nummer eins der Rangliste und für Grand Slam-Sieger. Für alle anderen ist es ein Kampf um jeden Euro, da muss die ganze Familie mithelfen, Freunde, Gönner. Dominic hat das Glück, dass wirklich alle mithelfen – und dass sie es auch können.
Konsequent weitergedacht: Die Ausbildung zum Tennis-Profi ist eine sehr teure Berufsausbildung, die mit großem Risiko verbunden ist und frühestens mit 19, 20 Jahren wirklich zählbare Einkünfte bringt. Klingt unterm Strich nicht sehr attraktiv.
Ist es aus dieser rein wirtschaftlichen Sicht auch nicht. Was dazu kommt: Die Gewissheit, ob du es schaffst oder nicht, die kommt immer später, man muss also immer länger investieren. Nur Ahnungslose glauben, dass man heutzutage mit 20 in den Top 100 stehen muss. Das hat sich längst geändert, das Alter der Spieler beim Eintritt in die Top 100 ist gestiegen, auf 22, 23, 24 Jahre, ebenso das Alter ihrer größten Leistungsfähigkeit, ebenso – aber nicht so stark – das Alter, in dem die meisten ihre Karriere beenden. Wenn man Tennis-Profi als Job sieht, schaut das so aus: Die Zeit, in der man Geld verdienen kann, beginnt später, dauert kürzer – und es wird unwahrscheinlicher, dass man überhaupt in die Regionen vorstößt, in denen man etwas verdienen kann.
… was nach wie vor die Top 100 sind?
Ja, im Wesentlichen, außer man findet andere Wege, etwa indem man Liga spielt und viele Preisgeldturniere, wo das Verhältnis zwischen Kosten und Einnahmen günstiger ist.