Jens Voigt, der Sprecher der Radprofis, spricht im Interview mit der F.A.Z. über die Guten und die Bösen der Branche, Sportler unter Generalverdacht, den schmerzhaften Reinigungsprozeß und seine Rückkehr zur Tour de France.
Haben Sie denn überhaupt noch Freude daran, Ihrem Beruf nachzugehen - oder würden Sie ihn am liebsten aufgeben?
Das wäre das falsche Signal. Das würde dann ja bedeuten, daß sich die Guten geschlagen geben. Ich zähle mich zu den Guten in dem Fall.
Erik Zabel sagte unlängst, er schäme sich inzwischen manchmal dafür, Radprofi zu sein. Ist dieses Gefühl bei Ihnen auch präsent?
Ja, auf jeden Fall. Es wird ja immer schlimmer. Man traut sich ja kaum noch, darüber zu reden. Früher war das ein angesehener Sport: Radsportler, Mensch, die leisten was, die fahren die Tour de France - jetzt steht man natürlich unter Generalverdacht.
Spüren Sie auch entsprechende Reaktionen von Zuschauern?
Nein, das geht noch, muß ich ehrlich sagen. Leute, die mich erkennen, sprechen mich an: Glückwunsch zum Tour-Etappensieg. Das ist schon noch sehr differenziert. Was mich persönlich sehr glücklich macht, daß sie im Augenblick doch noch davor zurückschrecken zu sagen: Die sind alle eins. Bei den Kriterien, bei denen ich gestartet bin, hat keiner gepfiffen oder gebuht.
Warum ist das trotz der schweren Anschuldigungen gegen eine Reihe von Rennfahrern immer noch so?
Vielleicht sind die Leute schlauer, als man glaubt. Die unterscheiden sehr wohl zwischen den Einzeltätern, die den Schaden anrichten, und dem gesamten Sport, den vielen Leuten, die hart und ehrlich arbeiten. Und andererseits sagen sie: Wißt ihr was, ins Fußballstadion gehen wir auch noch. Normalerweise hätte man die erste Liga nach dem Hoyzer-Skandal mal ein Jahr lang dichtmachen können. Darüber hat keiner auch nur eine Nanosekunde nachgedacht. Im Fußball haben die Schiedsrichter beschissen, in Italien haben die Schiedsrichter beschissen. In der Formel 1 hatte Schumi das falsche Benzin getankt, er hatte die falsche Bodenklappe an seinem Wagen gehabt. Da denkt auch keiner daran, nicht mehr hinzugehen.
Im Radsport handelt sich es aber offenbar um einen Flächenbrand. Bricht ihm dadurch nicht doch die Basis weg?
Nein, die Basis wird ja nicht erwischt, erwischt werden einige sehr prominente, hochbezahlte Sportler.
Hat Sie der Fall Landis überrascht?
Natürlich. Man hatte doch gedacht: Jetzt haben wir einen ganzen Haufen Leute vorher schon aussortiert. Ich war felsenfest davon überzeugt, daß es dadurch besser geworden wäre.
Warum könnte Landis, sollte er tatsächlich schuldig sein, ein solches Risiko eingegangen sein - obwohl er doch wissen mußte, daß er genau kontrolliert würde?
Wir müssen erst mal die B-Probe abwarten. Wir können nicht jetzt schon voll auf ihn einschlagen. Aber wenn das wirklich ein positiver Fall wird..., vielleicht hat er gedacht, das merkt keiner. Vielleicht hat er gedacht: Ich will die Tour de France gewinnen, ich mache alles, was nötig ist.
Hat denn die Tour noch eine Zukunft? Kann man sie ohne Doping bestreiten?
Na klar, das geht. Ich habe es ja geschafft. Wobei ich generell finde, daß die Fahrer dazu neigen, Rennen sehr schwer zu machen. Sie haben es gerne spektakulär. Man könnte es als Veranstalter aber vielleicht ein bißchen einfacher gestalten: Flachetappen nicht länger als 200 Kilometer, Bergetappen maximal 180 Kilometer. Dadurch wird das Rennen auch interessanter, es passiert mehr.
Muß sich nicht auch die Einstellung der Fahrer ändern? Glauben Sie wirklich, daß die jüngsten Ereignisse die Bereitschaft zu manipulieren eindämmen werden?
Ich denke schon. Es wird auf jeden Fall abschrecken. Hier wird vor keinem haltgemacht. Daß wir welche erwischen, heißt: In unserem Sport passiert etwas, es bewegt sich etwas, auch wenn es ein sehr schmerzhafter Prozeß ist. So versuche ich das zu sehen. Wir knüpfen das Netz enger und versuchen, alle nach und nach rauszufischen.
Ist das Thema Doping im Radsport nicht zu lange zu lax behandelt worden?
Man hat es schon fest angepackt. Was uns sehr helfen würde, wäre ein Test, um Wachstumshormon oder Eigenbluttransfusionen zweifelsfrei nachweisen zu können, dann würde es auch kein Entgegenkommen mehr geben. Das wäre sozusagen ein Geniestreich, wenn wir so etwas hätten. 1998 hat man gedacht, alle haben die Lektion gelernt - vielleicht doch nicht alle. Vielleicht hat man einfach das Potential der Leute unterschätzt, daß der eine oder andere wirklich weitermacht.
Sie sagten, Sie seien ein "Guter" - wie geht das in dieser Branche?
In meinen Augen ist das recht einfach. Alles, was du benötigst, ist ein Nein. Und wenn du sehr höflich bist, sagst du noch: nein, danke. Mir ist auch noch nicht vorgekommen, daß jemand zu mir gesagt hätte: Hey, Jens, hör mal zu, gib mir 10.000 Dollar, ich gebe dir die Pille, und damit gewinnst du. Wenn du geradeaus deinen Sport machst, trainierst, deine Rennen fährst, bist du auch nicht so sehr in Gefahr. Ich stelle mir das immer so vor: Man muß aktiv auf die Suche gehen nach so was. Daß der Fahrer sagt, ich möchte besser werden, ich möchte die Tour oder Rund um den Kirchturm gewinnen, und der dann von sich aus ein Signal aussendet, ich wäre bereit, dies oder jenes zu machen - ist da jemand, der mir helfen will? Wenn es Opfer gibt in der ganzen Geschichte, dann ist es unser Image, und es sind die ehrlichen Fahrer, denen der Sieg geklaut wird.
Hat der Profiradsport grundsätzlich die Kraft, sich zu reformieren, seine Existenz zu sichern?
Ich hoffe doch stark, daß das so kommt. Der Radsport hat die 98er-Krise auch überstanden. Es gibt zu viele Mitglieder, zu viele vernünftig arbeitende Menschen, als daß das alles zusammenbrechen würde. Auch wenn ich im Augenblick vielleicht als Idiot dastehe mit dieser Aussage: Ich glaube nach wie vor, daß es im Radsport mehr Gute als Böse gibt. Wir Fahrer müssen härter mit denen umgehen, die uns das eingebrockt haben. Die Medien müssen uns aber auch eine Chance geben. Es kann beispielsweise nicht sein, daß ein Richard Virenque, der den Festina-Skandal mit ausgelöst hat, bei Eurosport in Frankreich als Kommentator arbeitet.
In Deutschland denken ARD und ZDF inzwischen über einen möglichen Ausstieg aus der Tour-Berichterstattung nach.
Damit tun sie uns auch keinen Gefallen. Dann könnten Sponsoren sagen: Das Fernsehen gibt das Signal, daß der Radsport nicht mehr zu retten ist, also steigen wir auch aus. Das würde uns sehr weh tun. Die übertragen doch auch Fußball oder den Ironman auf Hawaii oder Leichtathletik - mein Gott, was passiert denn da alles?
Kehren Sie noch einmal zur Tour zurück?
Wer ich als Radprofi bin, bin ich durch die Tour de France geworden. Ich war jetzt neunmal dabei, zehn Starts würde ich schon gerne schaffen. Das ist eine schöne runde Zahl.
Die Fragen stellte Rainer Seele.
Text: F.A.Z., 31.07.2006, Nr. 175 / Seite 22