Novak Djokovic wollte nur ein Tennisturnier spielen, nun sieht die australische Regierung in ihm eine Bedrohung für die Bevölkerung. Wie kam das?
Es ist extrem schnell eskaliert. Die Argumente, welche die Regierung als Gründe für seine erneute Einreiseverweigerung vorbrachte, weichen stark von der ursprünglichen Begründung ab, mit der er an der Grenze blockiert worden war. Da ging es noch darum, dass er keine gültige medizinische Ausnahmegenehmigung habe, weil eine Covid-Infektion in den letzten sechs Monaten keine Kontraindikation für eine Impfung sei. Der Einwanderungsminister argumentierte nun, dass Djokovic aufgrund seiner früheren Aktivitäten in Serbien, der Verletzung der Isolation, seiner Anti-Impf-Haltung und wegen der Anti-Impf-Stimmung, die er in Melbourne ausgelöst hat, der gesundheitspolitischen Botschaft in Victoria schaden könnte. Seine Anwesenheit in Australien wird als schädliche Sache für unsere gute Ordnung und die öffentliche Gesundheit betrachtet.
Können Sie das nachvollziehen?
Es ist schon unfassbar, dass die Regierung sagt, einer der weltbesten Sportler sei so gefährlich, dass er sich nicht länger im Land aufhalten könne. Seine Handlungen in Melbourne waren immer tugendhaft, er ist der erfolgreichste männliche Spieler in der Geschichte unseres Grand-Slam-Turniers. Fakt ist aber auch: Wir haben Proteste von serbischen Fans und von Impfgegnern erlebt. Gerade war wieder eine Anti-Impf-Demo in Melbourne. Und wir haben in Victoria aktuell eine sehr hohe Anzahl an Fällen, rund 35’000 pro Tag. So viele wie noch nie.
Was wäre passiert, hätte Djokovic nicht vor seinem Abflug auf Instagram herausposaunt, er fliege mit einer Sondergenehmigung nach Australien? Wäre er dann problemlos ins Land gekommen?
Die Wahrscheinlichkeit ist gross, ja. Ich habe von einem Bundesbeamten gehört, dass Djokovic dann wohl durch das Netz geschlüpft wäre, seine Unterlagen nicht so gründlich geprüft worden wären. Die Tschechin Renata Voracova und ein Offizieller waren ja mit der gleichen Ausnahmeregelung eingereist und am Flughafen nicht erwischt worden. Djokovic postete seine Message am Dienstagabend australischer Zeit und sollte am Mittwoch spät in Melbourne eintreffen. Am Mittwoch trat Craig Tiley (der Turnierdirekor des Australian Open) auf und erklärte, zwei unabhängige Gremien hätten die Ausnahme bewilligt. Worauf sich die Bundesregierung, welche die Grenzen kontrolliert, fragte, worin zum Teufel diese Ausnahmegenehmigung bestehe.
Djokovic hatte schlafende Hunde geweckt.
Genau. Die Bundesregierung fand heraus, dass die medizinische Ausnahmegenehmigung nur von Tennis Australia erteilt worden war, und zwar auf der Grundlage einer früheren Infektion. Dabei hatte die Bundesregierung Tennis Australia monatelang gesagt, dies sei kein gültiger Grund für eine Einreise. An diesem Tag konnte die Regierung also die politische Temperatur testen, herausfinden, wie unpopulär Djokovics Einreise nach Australien war, und auch die Glaubwürdigkeit seiner Ausnahmeregelung gründlich prüfen. Das war ein entscheidender Tag. Ich glaube nicht, dass irgendetwas davon ohne seinen Instagram-Post passiert wäre.
Wie erklären Sie sich, dass Djokovic die Stimmung in der australischen Öffentlichkeit so falsch einschätzen konnte? Er wusste ja, dass Australien sehr harte und lange Lockdowns hinter sich hatte.
Das ist eine sehr gute Frage. Was die australischen Medien und Kommentatoren vielleicht übersehen haben: Es ist möglich, dass Djokovic und sein Team sich einfach nicht darum scheren, was die australische Öffentlichkeit über all diese Themen denkt. Er ist ein globaler Superstar. Er ist in seinem Land mächtiger als jeder Politiker. Vielleicht ist es ihm egal, dass es ein Land weit weg gibt, eine kleine, isolierte Insel, auf die er einmal im Jahr reist und deren Turnier er dominiert. Sein Vater spricht davon, dass Djokovic ein Anführer der libertären Welt sei, den englischsprachigen Staaten die Stirn biete und ein Champion der östlichen Welt sei. Djokovic könnte Australien als unterwürfiges, kleingeistiges Schosshündchen von England und der USA sehen.
Wie war das Verhältnis der australischen Sportfans zu Djokovic vor dieser Affäre?
Er war schon vorher unbeliebt. Nadal und Federer werden von den Menschen in Melbourne verehrt. Viele, die eigentlich gar keine Tennisfans sind, gehen im Januar ans Australian Open, weil sie diese zwei Wochen erleben wollen. Die beiden sind die besten Vertreter dieses Sports. Sie wirken sanftmütig und irgendwie sehr liebenswert. Djokovic war noch nie ein solcher Mensch, tatsächlich wurde er im Melbourne Park schon oft bei Spielen ausgebuht. Ich glaube, das liegt auch daran, dass er früher oft lange medizinische Auszeiten genommen hat, Wutausbrüche hatte. Er ist auch ein etwas dunklerer Charakter als einige der anderen, wie Nadal und Federer. Und jetzt machte ihn seine Impfskepsis zu einem Pin-up-Boy für die Impfgegner. Das war noch das Sahnehäubchen.
Hat ihm Turnierdirektor Tiley nicht einen Bärendienst erwiesen, indem er ihm eine Hintertür offen liess? Wäre es nicht besser gewesen, von Anfang an auf eine 100-prozentige Impfquote bei den Spielern und Betreuern zu setzen?
Ein guter Punkt. Ich glaube, Tiley hat versucht zu bewirken, dass sich so viele Spieler wie möglich impfen lassen. Die Quote ist ja auf 96, 97 Prozent gestiegen. Die Nichtgeimpften machen also nur noch eine sehr kleine Gruppe aus. Aber Djokovic war in den Überlegungen von Tiley immer sehr wichtig. Wenn er dieses Turnier gewinnt, kommt er auf 21 Grand-Slam-Titel und wird der grösste männliche Spieler der Geschichte. Ich glaube, Tiley würde sich wünschen, dass das in Melbourne passiert. Er möchte, dass dieses Turnier so gross wie möglich wird. Das war von Anfang an Teil seiner Überlegungen.
Die Frage, die in den Gerichten nun nicht wirklich diskutiert wurde, ist die eigentlich entscheidende: Qualifiziert einen eine Covid-Infektion in den letzten sechs Monaten für eine medizinische Ausnahmegenehmigung?
Ich habe mich in den letzten Tagen intensiv mit diesem Thema befasst und glaube inzwischen ein ziemlich solides Verständnis dieser Materie zu haben. Unser Beratungsgremium für Impfstoffe sagt, dass eine Covid-Infektion ein gültiger Grund für eine Ausnahmegenehmigung in Australien ist. Wenn ich also in den letzten sechs Monaten an Covid erkrankt bin, muss ich mich nicht impfen lassen und vollständig geimpft sein, um in ein Café zu gehen. Aber, und jetzt kommt der Punkt: Diese Ausnahmeregelung gilt nicht für Ausländer, die nach Australien einreisen. Der Grund dafür ist, dass es für die australischen Behörden viel schwieriger ist, Laborergebnisse aus anderen Ländern zu überprüfen, über die sie keine Kontrolle haben. Manipulationen sind möglich. So gilt die Ausnahmeregelung zwar für die Impfung innerhalb Australiens, nicht aber für Menschen, die nach Australien kommen.
Und wie wird sich das Ganze aufs Australian Open auswirken? Ist es immer noch der Happy Slam? Oder hat es in den letzten zehn Tagen seine Unschuld verloren?
Eine schöne Formulierung. Vielleicht. Niemand sprach mehr über Tennis. Sondern nur noch darüber, ob jemand ein Formular richtig unterschrieben hat, und über all diese Dinge, die nichts mit Sport zu tun haben. Bis Montag ist das hoffentlich vorbei. Die Djokovic-Wolke wird über dem ganzen Turnier schweben. Aber es gibt auch die Covid-Wolke. Es dürfen nur 50 Prozent der Kapazität ausgeschöpft werden. Die Vorzeichen sind also definitiv so düster wie noch nie, seit ich mich erinnern kann. Das Turnier wird immer noch happy sein, aber wohl nicht mehr so happy wie früher.
(Quelle: SonntagsZeitung.ch)
Zur Person: Paul Sakkal ist seit Novak Djokovic in Melbourne eintraf und festgehalten wurde, als politischer Reporter von "The Age" praktisch rund um die Uhr im Einsatz. Sakkal wurde 2021 mit dem Preis für den "besten jungen australischen Journalisten" ausgezeichnet. Er ist auch zur CAusa Djokovic auf Twitter aktiv.